Ep. 06 – Gespräch mit Jörg Paulus

Shownotes

Man betritt den Hörsaal, sucht sich einen den eigenen Vorlieben entsprechenden Sitzplatz und legt sich Schreibmaterialien bereit. Dabei ist man umringt von vielleicht zehn oder aber auch mehreren hundert Kommiliton*innen, die ebenso am Ankommen sind, sich mit dem Platz des Klapptischs verständigen, die Kulimine kontrollierend raus- und reinklicken. Und dann, das Gewusel abschließend: Der Blick nach vorne, zur vortragenden Person. In dieser Episode unterhalten sich Simon Frisch und Jörg Paulus über das Format der Vorlesung in seiner geschichtlichen Entwicklung und darüber, inwiefern Vorlesungen heute von ihrem früheren klassischen Schema abweichen. Wodurch unterscheidet sich die Gestaltung eines Seminars von der einer Vorlesung? Wie gewichtet man die unterschiedlichen Ansprüche, die die Formate mit sich bringen? Und welche Eigenschaften weisen positive Gesprächssituationen aus?

Unser Host: Dr. Simon Frisch ist Vizepräsident für Lehre und Lernen an der Bauhaus-Universität Weimar und er leitet die Dozentur für Film- und Medienwissenschaft. Er interessiert sich besonders für die spezifische Praxis der Theorie und für die ostasiatischen Wegkünste sowie die Spaziergangswissenschaft als Perspektive und Methode in Lehre und Forschung.

Mitwirkende: Host: Simon Frisch Sound-Design und Schnitt: Jonas Rieger, Laura Khachab, Moritz Wehrmann Musik: Sebastian Lederle Artwork: Andreas Wolter Ton und Technik: Steven Mehlhorn, Moritz Wehrmann Marketing und Social Media: Claudia Weinreich, Marit Haferkamp Juristische Beratung: Laura Kister Digitale Barrierefreiheit: Christiane Hempel Transkript: Laura Khachab Produzentin: Nicole Baron Distribution: Ulfried Hermann, Jonas Rieger

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Ep. 07 – Gespräch mit Jörg Paulus

Jörg Paulus – JP

Simon Frisch – SF

Trailer: Zwischen Magie und Handwerk – ein Podcast der Bauhausuniversität Weimar. Mein Name ist Simon Frisch und ich spreche hier mit Lernenden aus allen Bereichen unserer Universität über Lehre und Lernen, über Ihre Erfahrungen und Ihre Perspektiven.

SF: Das Mikrofon ist aufgegangen und wir treten auf. Beginnen wir mit ein paar Worten zu den handelnden Figuren, die hier in den nächsten fünfundvierzig Minuten auftreten und mit ihrer Stimme auftreten. Wer sind wir überhaupt, als wer sind wir denn eigentlich hier, die hier über Lehre und Lernen sprechen? Wir sind ja immer sehr viele, wir sind also Kinder unserer Eltern, wir sind manchmal Eltern unserer Kinder, wir sind Freunde unserer Freunde, manchmal Freunde unserer Feinde oder Feinde unserer Feinde, wir haben Hobbys oder keine. So vielfältig sind wir aber meistens gar nicht da, sondern in dieser oder in jener Perspektive. Ich z.B. bin ein Dozent und ein Vizepräsident, Vizepräsident für Lehre und Lernen an der Bauhaus Universität, und als diese beiden bin ich hier, und als diese beiden interessiere ich mich für Lehre und Lernen. Selbst lerne ich, ja, lerne ich und lehre – lerne Lehren lernend.

Seit zehn Jahren an der Bauhaus Universität und seit fünfundzwanzig Jahren in meinem Leben schon an Universitäten, lehren. Trotzdem weiß ich gar nicht genau, was das ist. Und deswegen führe ich hier diese Gespräche.

Als wer bist du denn hier gekommen?

JP: Mein Name ist Jörg Paulus. Wir oder ich, wir sind jetzt schon irgendwo zwischendrin angelangt... Ich bin Professor hier an Bauhaus-Universität. Mir ist aber gerade eingefallen, dass ich normalerweise, wenn ich gefragt werde nach meinem Beruf, meinetwegen beim Zahnarzt oder so, dass ich dann nicht Professor sage, sondern Hochschullehrer. Ich weiß gar nicht, was – warum und was der rechtliche Kontext davon ist, wenn man sich – oder der rechtliche Unterschied, ob man sich Hochschullehrer oder Professor nennt, aber mir scheint es immer im alltäglichen Gespräch das Passendere zu sein.

SF: Interessant. Was schließt dich da an? Hast du mit beiden Erfahrungen gemacht, mit dem Professor und mit dem Hochschullehrer?

JP: Ich sage, glaube ich, so konsequent „Hochschullehrer“, dass ich noch nicht die Erfahrung mit dem Professor gemacht habe. Ich werde es jetzt mal mitnehmen und beim nächsten Zahnarztbesuch sagen. [Beide lachen] Übrigens, ich bin nicht mehr Hochschullehrer, sondern Professor.

SF: Ausgezeichnet.

JP: Ich kann es nicht genau sagen. Intrinsisch ist es so, dass ich „Professor“ einfach ein bisschen angeberischer finde als Hochschullehrer. Und jetzt kann man sich natürlich fragen, warum ist Professor denn angeberischer als Hochschullehrer?

SF: Das finde ich interessant. Dann schließen wir doch direkt an. Wir sprechen über Lehre und Lernen und an dem Professor, verbunden mit dem Professor, ist ja die Venia Legendi, oder? Das ist letztlich die Befugnis, zu lesen. Und das ist die Vorlesung. Die Vorlesung obliegt dem Professor. Andere Dozierende dürfen eigentlich nicht vorlesen.

JP: Ja, richtig. Der Privatdozent, der darf auch. Deshalb kriegt er die Venia Legendi. Das ist miteinander verkoppelt. Wenn man das Habilitationsverfahren durchlaufen hat, dann ist man Privatdozent und dann hat man die Venia Legendi. So ist das traditionelle Schema.

SF: Die Erlaubnis, Vorlesungen zu halten. Die Vorlesung ist ein Format, das sehr kontrovers phasenweise, immer wieder mal gibt es Konjunkturen in der Vorlesung. Dann gibt es wieder Konjunktur der Abwertung und der Aufwertung. Also, so will ich das ausdrücken, sagen. Was ist das eigentlich für ein Format, die Vorlesung?

JP: Ich sage erstmal ganz subjektiv: Ich liebe das Format der Vorlesung.

SF: Geht mir auch so.

JP: Ich stehe da gerne vorne. Wir haben auch sozusagen, Simon Frisch und ich haben auch ein gemeinsames Publikum in gewisser Weise in dem Sinne, dass wir gemeinsam mit unseren anderen Kolleginnen und Kolleginnen die Einführungsvorlesungen in die Medientheorie uns aufteilen. Und da haben wir sozusagen, glaube ich, auch ein ähnliches Verhältnis. Hab ich’s Gefühl, ein ähnliches Verhältnis zu den Studierenden. Wir mögen es, die zu adressieren, gerade die Erstsemester. Das finde ich auch nochmal eine besondere Lehrsituation, wenn man weiß, die lernen jetzt gerade die Universität kennen. Und ich bin nach wie vor der Meinung, dass die sehr gut die Universität kennenlernen im Format der Vorlesung. Und deshalb thematisiere ich das immer. Ich thematisiere das u.a. mit einem Nietzsche-Zitat immer, das lautet – ich weiß nicht, ob ich es jetzt richtig gut zusammenkriege: Wenn ein Ausländer an unsere deutschen Universitäten kommt, was beobachtet er da, was zeichnet die Universität hier in unserem Raum aus? Und die Antwort, die Nietzsche gibt, ist: Es gibt da im Grunde einfach zwei Parteien, es gibt eine redende Partei, und es gibt eine Partei, die nur aus Ohren besteht.

SF: Ohren? Okay.

JP: Ja. Aus Ohren. Dann sage ich immer, das hat sich natürlich geändert. Es gibt zumindest den visuellen Aspekt auch, der zunehmend für die Vorlesung wichtig geworden ist. Man wird als ein komischer Kauz angesehen, wenn man Vorlesungen ohne Power Point Präsentation macht.

SF: Ah ja, schön.

JP: Und man muss schon sehr stark sein, um das dann durchzuhalten und von Anfang bis Ende neunzig Minuten ohne irgendwelche Bebilderung heutzutage zu sprechen. Aber früher war das natürlich anders. Es fing ja ursprünglich so an, dass die Lehrenden einfach, deshalb Legendi, einfach aus ihren Büchern vorgelesen haben.

SF: Ja, waren die schon publiziert, sozusagen?

JP: Die waren schon publiziert.

SF: Publizierte Bücher wurden vorgelesen.

JP: Wurden nochmal neu vorgelesen. Genau.

SF: Ach? Weil… Bücher sind teuer usw.? Es gibt kein Radio, also geht man dahin. Und dann bekommt man das Buch der Professoren eben, vorgelesen und kann es dann mitschreiben usw. und transformiert dann. Also anders so, wie wir das jetzt… Da schließen ja eine ganze Reihe von Dingen gleich an, da muss ich jetzt aufpassen, dass ich nicht davongaloppiere. Weil ja dann das Lesen eines Buches letztlich eine Vorlesung zuhause ist. Also, wenn ich mir die Vorlesung zur Ästhetik von Hegel hole, die er gar nicht geschrieben hat, oder?

JP: Ja, das ist eben jetzt wieder spannend. Genau darauf wollte ich hinkommen. Aus diesem Vorlesen aus dem Buch entwickelte sich dann sozusagen die neuzeitliche Vorlesung aus Manuskripte oder auch freigehalten. Das gab es relativ in einer langen Phase, dass beide Möglichkeiten gegeben waren. Und bei Hegel, das ist eben das besonders prominente Beispiel in dem Zusammenhang, war es ja nun eben so, dass er vieles auch frei vorgetragen hat. Ziemlich schrecklich muss es gewesen sein, weil er nicht so richtig vom… die Sätze zu Ende gekriegt hat. Alles das, was das Bild des schrecklichen Dozenten am Vorlesungspult dann mitgeprägt hat. Und aus diesem Grund gibt es sehr unterschiedliche Mitschriften seiner Vorlesungen. Und das macht es schwierig, die eben sozusagen dingfest zu machen. Es gibt dann mehrere Fassungen, in denen sie dann in die Welt gekommen sind.

SF: Okay, jetzt verstehe ich das. Es gibt Videoaufnahmen aus den 1970er Jahren von Gilles Deleuze oder Michel Foucault oder so, die hinter Aufnahmegeräteburgen sitzen und Rauchschwaden sowieso. Aber jedenfalls - und weil die auch nicht aus Skripten vorlesen, die man nachher hat, deswegen hat man da Aufzeichnungsgeräte, die jetzt über die Feder hinausgegangen sind, weil sie Magnetofon oder weil es eben Audiophone, Aufzeichnungsgeräte sind. Na, wie heißt das? Audiografie ist? Phonografie, ja. Phonografen letztlich, die da stehen, die also auch mitschreiben, was da gesprochen wird, und aus denen heraus entstehen jetzt wieder Bücher, die man dann mit nach Hause nimmt, und dann kann man sozusagen lesend die Vorlesung im Kopf nachvollziehen und schreibt da wieder mit, was man davon versteht und was nicht. So gehen ja dann so, so gehen Wissensverarbeitungen dann weiter. Das heißt, die Vorlesung heißt „Vorlesung“, ist aber sehr vielfältig überliefert und wird vielfältig gesendet usw. Nun haben wir selber heute ja ein Format, ich mag die Vorlesung tatsächlich gerne, weil sie auch für mich als Lehrender eine Verantwortung und eine Herausforderung bedeutet.

Jetzt hast du auch von Power Point gesprochen. Ich finde das tatsächlich sehr schön zu sagen, ich mach’s jetzt mal ohne Bilder, ohne Power Point, und dann muss ich natürlich auch was leisten. Ich muss dann wirklich interessant sprechen. Letztlich vielleicht auch, weil die Konkurrenz größer geworden ist. Wenn Hegel da steht, gab es nichts als Hegel, dann kann Hegel das machen wie Hegel, weil wer Hegel sehen will, der kriegt dann so seine Philosophie. Jetzt könnte man sagen, gehe ich woanders hin, also die Alternativen. Das heißt also, die Vorlesung muss schon gut werden, und ich habe sehr viel darüber nachgedacht, was muss ich da eigentlich alles machen, damit neunzig Minuten die Kraft hält. Wir nennen das mal Kraft oder so was. Was machst du für Erfahrungen mit der Vorlesung?

JP: Ich muss einfach nochmal kurz bei Hegel stehen bleiben.

SF: Ja, ja, wieder zurück, klar.

JP: Der hatte ja tatsächlich den Konkurrenten nebenan, nämlich Schopenhauer.

SF: Ach richtig.

JP: Oder umgekehrt. Und Schopenhauer war immer sauer, dass alle zu Hegel gegangen sind, obwohl er so elend seine Vorlesung gehalten hat [Simon lacht] Schopenhauer, da war es nicht schwäbisch, da war es nicht gemurkst, trotzdem kam niemand zu ihm, sondern alle sind zu Hegel.

SF: Weil Hegel der Star war. Man wollte danach sagen „Ich war auch dabei“ oder so was. Das war in dieser Phase, ja.

JP: Das war natürlich schon Prominenz. Jetzt bin ich aber von der Frage abgekommen.

SF: Welche Erfahrungen machst du mit der Vorlesung? Was ist das für ein Lehrformat, in deiner Lehre?

JP: Ich habe sehr unterschiedliche sozusagen Zuschauerzahlen. Die gehen wirklich von Schopenhauer zu Hegel. Ich habe schon im Master Vorlesungen gemacht, wo wir nicht riesige Kohorten haben, und habe Vorlesungen dann für eine einstellige Zahl von Hörerinnen gemacht. Und ich habe natürlich unsere großen Einleitungsvorlesung, die manchmal ja schon um die hundert Leute haben. Das ist natürlich schon sehr unterschiedlich, die Art der Adressierung.

Und doch ist es für mich ganz klar: Das ist Vorlesung und eben nicht Seminar. Ich rede anders. Ich rede in der Regel so halb frei und halb Manuskript. Ich versuche das möglichst, was nicht einfach ist, den Übergang zu verschleiern zwischen dem Manuskriptsprechen und dem Freisprechen. Und muss zugeben, dass ich da diese Art des Hin- und Herschwankens schon sehr stark ans Bild dann knüpfe. Ob es nun ein Zitat einfach ist, das an der Wand ist oder was bei mir im Fach natürlich relativ häufig ist: Es sind dann Archivalien in irgendeiner Art und Weise schon in der Regel, die mit Schrift zu tun haben, aber natürlich auch nicht immer. Und es geht mir nicht immer um die Schrift, sondern manchmal gerade nicht um die Schrift. Aber das sind dann Dinge, über die ich sehr gut auch, glaube ich, auch frei sprechen kann, während die eigentliche Entwicklung des daran anschließenden Gedankens, da bin ich auch froh, da brauche ich auch manchmal das Manuskript.

SF: Das Manuskript ist ja was Geschriebenes. Das heißt, dem Vorlesen geht ein Schreiben voraus. Schreibst du für Vorlesungen anders als für andere Angelegenheiten?

JP: Ja, auf jeden Fall.

SF: Kannst du’s beschreiben?

JP: Weil ich glaube schon, dass das Schreiben bei mir immer adressbezogen ist. Und da kommt dann schon auch der Unterschied rein. Ich weiß dann schon, ob ich eine Vorlesung mit zehn oder mit hundert Leuten am nächsten Tag haben werde.

SF: Ah! Worin äußert sich der Unterschied im Schreiben?

JP: Ja. Das muss ich mir selbst überlegen, weil ich es mir noch nie klar gemacht habe. Aber ich bin sicher, dass es das gibt. Wie sozusagen, wie funktioniert Adressierung im eigentlichen Schreibprozess?

SF: Das ist schön, dass wir jetzt von der Vorlesung ins Schreiben kommen. Aber bleiben wir, genau: Adressierung im Schreiben, das ist wirklich interessant. Wie geht das?

JP: Es ist sicher eine Frage der Komplexität, die da eine Rolle spielt. Ich glaube, man traut oder man mutet einer kleineren Gruppe mehr zu als einer größeren Gruppe. Da ist einfach so eine alte Schullehrerweisheit, glaube ich, dass man bei einer großen Gruppe nicht weiß, wen man alles noch mitnehmen kann und will, und man will ja möglichst so viel wie möglich mitnehmen. Also versucht man die Komplexität da, sprachlich zumindest, erstmal runterzudimmen. Und in der kleinen Vorlesung, da weiß ich, mit wem ich es zu tun habe. Und kann dann z.B. auch, also, dann überlege ich mir wirklich: Ah, da sitzt Frau X und Herr Y drin, also sage ich oder schreibe ich auch was, wo ich weiß, Herr X und Herr Y haben da ihre Freude dran. Muss ich zugeben, mache ich auch bei Nicht-Lehrformaten, also bei Vorträgen für ein rein wissenschaftliches Publikum. Auch da überlege ich mir schon, wer sitzt da drin, und was interessiert diese Person. Und das versuche ich aber tatsächlich eben auch, im Lehrformat so zu halten.

SF: Adressierung finde ich eine ganz interessante, wie soll ich sagen? So eine ganz interessante… wie ein Gelenk oder so was, ein Übergang oder ein Scharnier. Wo im Schreiben das Lesen irgendwie eine Rolle spielt. Das Schreiben ist ins Lesen schon mit reingenommen, oder umgekehrt, das Lesen im Schreiben. Also, ich schreibe in Hinsicht auf das was zu Lesendes. Und Adressierung bedeutet für mich, wenn ich das jetzt so richtig verstehe, und ich habe über Adressierung schon viel nachgedacht – und auch viel Erfahrung mit Adressierungen gemacht – und rede auch viel mit Studierenden über Adressierung. Wie kann ich schreiben und wie muss ich adressieren, damit ich schreiben kann, und was kann ich schreiben in Hinsicht auf welche Adressierung? Das wird ja dann sehr schnell sehr vielfältig. Insbesondere Schreibblockaden entstehen meistens aus Adressierungskonflikten. Das ist meine Erfahrung so ein bisschen.

Insbesondere wenn ich an Prüfer denke, Prüferinnen und Prüfer oder Prüfungszusammenbedingungen. Und ich schreibe für Leute, die alles, was ich schreibe, sowieso schon langweilig, gähn und schlecht finden, dann schreibe ich gar nichts mehr, dann habe ich irgendwie die falsche Adressierung, weil ich gar kein Interesse adressiere. Sondern ich adressiere die bewertende Position usw. Nehme die Bewertung mit rein in mein Schreiben, finde dann alles ein bisschen – habe dann eine Tendenz dazu, alles ein bisschen blöd zu finden, was ich da schreibe. Sodass ich ins Schreiben schon das Lesen einschreibt. Finde ich gerade merkwürdig, aber auch interessant und einleuchtend.

JP: Und merkwürdig finde ich auch beim Darübernachdenken, dass man das Adressieren anders denken kann. Ich bin ja Briefforscher auch. Beim Briefschreiben ist ja die Adresse natürlich etwas ganz Wichtiges. Die kommt aber am Ende. Normalerweise, ich glaub, die wenigsten Leute sagen: Ich fange mal einen Brief an, ich schreibe erstmal die Adresse aufs Kuvert. Nein, man schreibt erst mal den Brief, faltet ihn zusammen, steckt ihn ins Kuvert. Beziehungsweise früher hat man ihn zusammengefaltet, und das zusammengefaltete Papier war schon das Adresspapier. Da hat man auf die freie Rückseite dann die Adresse geschrieben, so wie es gefaltet war, und dann kommt die Adresse drauf. Das heißt, wenn wir von Adresse reden, und das ist ja schon ein relativ prominenter und grundlegender Begriff des Adressierens, das Adressieren von Post. Dann gehen wir offenbar gerade umgekehrt vor als bei dem Verfahren, von dem wir ausgegangen sind, nämlich dem Schreiben einer Vorlesung, bei dem ich natürlich in gewisser Weise die Adresse schon kenne. Bei dem ich aber beim Schreiben immer das Adressieren schon mitnehme, weil ich die Adresse am Schluss nicht nochmal drauf schreibe, wahrscheinlich. Der Abschluss der Vorlesung besteht nicht darin, dass ich sie nochmal adressiere, sondern ich halte sie.

Das ist dann nur Übergang. Das Halten ist vielleicht aber auch das eigentliche Adressieren dann wiederum. Ich stelle mich hin, und jetzt habe ich ja alles geschrieben, mehr oder weniger oder durchdacht. Und jetzt halte ich die Adresse.

SF: Deswegen ist das – ich finde das gerade interessant, gerade mit dem Brief. Es ist wie eine Sendung, eigentlich so ein bisschen ähnlich wie dieser Podcast auch. Wir wissen ja gar nicht, wem wir jetzt da was erzählen, sondern wir erzählen es ja irgendwie uns und laden ein zur Zeugenschaft oderzum Mithören oder zum Nachhören oder sowas. Das ist ja ein merkwürdiger Ort. Bei einem Brief sehe ich aber – ich habe ja schon einen Adressaten, aber ich finde es interessant tatsächlich. Ich verliere ihn immer wieder aus den Augen und fange an, im Schreiben Gedanken zu entwickeln, die ich dann hoffe, dass dann am Ende, wenn ich es draufschreibe – aber ich weiß am Anfang natürlich schon, was ich am Ende auf –

JP: Ich glaube, ich habe viel mit Briefen zu tun und viel mit Briefen geforscht. Aber ich glaube, es ist mir nie das Phänomen untergekommen, dass jemand offenbar während des Schreibens gedacht hat, der Brief ist ja ist ja gar nicht der, als der er – der Adressat des Briefes ist gar nicht der mit dem ich im Blick angefangen habe, sondern ich schicke ihn jetzt mal an jemand anderes oder so.

SF: Das ist schon so, dass der Adressat ist im Grunde, am Anfang ist ein Vorhaben, und am Ende steht er auch drauf.

JP: Genau. Er ist auch in dem Sinn adressiert, als er durch die Grußformel in der Regel am Anfang festgelegt wird.

SF: Aber doch unterwegs. Also das Briefschreiben ist ja nicht immer eine Mitteilung von Informationen, die in Hinsicht auf den anderen – Ich glaube, da berührt das auch wieder die Vorlesung. Es hat eben auch manchmal etwas Allgemeinsendendes, nur deswegen lesen wir ja auch Briefe von Autorinnen und Autoren, die gar nicht an uns gerichtet sind, weil wir auch was davon haben, weil das letztlich manchmal Schreibanlässe sind. Briefe sind ja irgendwie auch Schreibanlässe in denen dann Texte entstehen, die gar nicht mehr adressiert, die nicht in jedem Satz Adressierungen wirklich nachweisbar finden. Und ist das nicht bei Vorlesungen auch so? Ich nehme Vorlesungen schon auch so wahr. Ich selber. Ich habe ja gar keine Venia, aber ich hab schon mal eine Vorlesung gemacht, aber nicht verraten. Und da hatte ich immer das Gefühl, ich mache mir etwas klar und lade danach Leute dazu ein, wen es interessiert, kann zuhören. Gleichzeitig stimmt das so natürlich nicht, weil ich es ja einpasse in Curriculum usw. Das ist schon sehr ein organisiertes Zuhören.

JP: Das hat sich ja auch extrem geändert, natürlich. Das ist auch ein Problem, dass –

SF: Was ist der Unterschied? Ja, was hat sich geändert?

JP: Naja, dass früher einfach die Vorlesung so etwas wie der Sammelplatz, das Forum des akademischen Lebens war. Da ist man ja nicht hingegangen, weil man eine Note dafür bekommen hat. Sondern man ist tatsächlich zur Vorlesung gegangen, das ist wieder die Hegel Geschichte, weil man wirklich Hegel vor Ort live in Berlin hören wollte. Und so war das bis Bologna, muss man, glaube ich, wirklich der Ehrlichkeit halber sagen. Bologna hat aus der Vorlesung schon etwas anderes gemacht hat, weil die Vorlesung jetzt irgendwie curricular geworden ist und die Leute eben in die Vorlesung gehen, weil das in ihrem Studienprogramm steht. Und ganz wenige, glaube ich, das hat sich soweit noch nicht erholt, wenn es denn sein muss, wenn man denn diese nostalgische Idee der Vorlesung haben will. Vielleicht gibt es ja inzwischen viele bessere Formate, die diese Idee, dass man Frau XY erlebt haben will an der Universität. Oder vielleicht ist das auch gar nicht mehr der Sinn der Universität, dass man Personen erleben will. Daher, ich will es jetzt gar nicht in dieses nostalgische Licht tauchen, aber diese Form der Vorlesung, die scheint mir zumindest an den Rand gedrängt geworden zu sein.

SF: Das ist interessant. Das heißt, es ist gar nicht mehr die Vorlesung, sondern es ist ein im Format der Vorlesung überbrachter Teil des Curriculums oder eingebrachter Teil des Curriculums. Die Vorlesung hat ja, stimmt, einen Nimbus, die große Vorlesung, „in diesem Jahr mache ich wieder eine Vorlesung“. Diese Sätze erzählen ja alle ein bisschen davon: „Meine Vorlesung zu“, „die halte ich wieder“ usw. „Warst du bei der Vorlesung?“, „Gehst du - ?“ usw. usf. Das heißt, Vorlesung ist nicht einfach nur eine Beschreibung des Vorgangs, eine Textgattung in gewisser Weise, die letztlich dann mündlich verbalisiert ist, oder wo was schriftlich Verbalisiertes dann artikuliert, mündlich artikuliert wird. So könnte man das unterscheiden, weil vorgelesen ist ja nicht nur vorgetragen, das ist ja keine Rede, es ist ja wirklich eine Vorlesung. Du hast vorhin vom Manuskript gesprochen. Manchmal ist es auch geschrieben oder aufgeschrieben oder notiert. Und jetzt ist es Teil des Curriculums und ist eigentlich ein Teil, ECTS usw. Es wird mehr verrechnet, dieser ganze Ort ist es jetzt nicht mehr. Und gleichzeitig aber erlebe ich das schon, dass Studierende sagen, dass die Vorlesungen und dass sie auch gerne etwas vorgelesen bekommen. Mir selber wurde auch, immer wenn ich gesagt habe, so viel monologisiert jetzt im Seminar, dann sagen sie: Nee, nee, das ist schon ganz gut, weil wir jetzt etwas erklärt bekommen. Das Format Vorlesung selber, was immer das „selber“ ist, ist eigentlich nicht obsolet.

JP: Das glaube ich auch. Und genau die Erfahrung, die du jetzt beschrieben hast, die mache ich oft auch, dass in Seminaren die Sitzungen, in denen der Dozent, die Dozierende relativ viel redet, dass es sich dem klassischen Format „Vorlesung“ annähert, dass sie nicht unbeliebt sind. Dass man dann die Rückmeldung bekommt, das war eine gute Sitzung, da haben wir was mitgeteilt bekommen. Sodass es eher umgekehrt eben ist, dass wir Studierenden dann manchmal auch zu vermitteln versuchen: Ja, aber natürlich ist es für uns auch wichtig, Sie reden zu hören und mit Ihnen ins Gespräch zu kommen. Mir war gerade nochmal der Brief eingefallen. Die lange Zeit gültige Gespräch des Briefs, war ja ein Gespräch unter voneinander Abwesenden. Das wäre dann doch nicht das Modell Vorlesung, sondern das Modell Gespräch und damit das Seminargespräch. Im Grunde genommen, den Brief zu imitieren versucht über einen gestreckten Zeitraum hinweg. Und vielleicht braucht das tatsächlich, seit wann auch immer, wieder stärkere Werbung fürs Gespräch als für die Vorlesung.

SF: Ach so.

JP: Das könnte schon auch eine Gegenbewegung irgendwie sein. Eine Gegenbewegung, die mit dieser Randständigkeit der Vorlesung einhergeht.

SF: Das wäre sozusagen die große Emphase, zu sagen: Wir wollen nicht mehr frontal, das ist Hierarchie, wir brauchen das Gespräch. Das ist letztlich das Gefühl, was darunter liegt, wo man dann sagt, wir müssen Vorlesungen abschaffen, wir wollen keinen Frontalunterricht mehr usw. Aus dem Gefühl heraus, oder letztlich aus einem Bewertungszusammenhang heraus, die Frontalität unterbindet das Gespräch.

JP: Genau, ja.

SF: Man kann das ja auch umgekehrt, das ist ja auch ein Service, das hat ja auch was Dienendes. Also die Hörenden werden ja im Grunde – ich bereite vor, ich mache, ich zerlege und diene mich sozusagen den Hörenden an und versetze sie in die Lage, letztlich Konversationswissen zu bekommen – so kann man es ja vielleicht nennen – mit dem man dann ins Gespräch tritt.

JP: Richtig. Weil eines, was im Format Vorlesung ja wirklich früher nicht vorhanden war, ganz undenkbar war und jetzt einfach dazugehört, ist, dass am Ende der Vorlesung Zeit zum Gespräch gegeben wird. Zur Rücksprache, zur Rückfrage. Das wäre vollkommen ausgeschlossen von Hegel bis Adorno, dass Adorno gesagt hätte: Und nun öffne ich das Gespräch oder kann sich das Gespräch an meine Vorlesung anschließen.

SF: Hab ich aber auch noch erlebt. Der Professor geht wieder raus.

JP: Genau.

SF: Und ich auch, und wir kennen uns gar nicht.

JP: Man klopft, er spricht seinen letzten Satz. Furioses Ende. Klopf, klopf und dann ist vorbei.

SF: Wir gehen.

JP: Die Idee, dass man dann sagt: Unterhalten wir uns doch mal über das, was Sie gerade gehört haben. Das ist eine ganz neue Erfindung.

SF: In der Vorlesung?

JP: In der Vorlesung, ja.

SF: Dann gibt es noch die Idee, dass das angeschlossene Seminar dann dazu gelegen hat. Morgen, übermorgen, und dann besprechen wir: Sie sagten in der Vorlesung, wie es denn jetzt hier mit so und s?

JP: Genau, das gab es, glaube ich, das gab es wahrscheinlich schon länger. Aber diese allmähliche Aufhebung der Trennung, die ist schon, glaube ich, eine neuere Entwicklung.

SF: Ich finde das tatsächlich anstrengend, weil der Moduswechsel der ist krass. Wenn ich nach sechzig, neunzig Minuten oder so etwas, neunzig sind es ja dann nicht, damit noch Zeit bleibt. Dann so und so, jetzt fragen, das ist so ein neuer Modus. Von der ganzen Kraftorganisation habe ich da das Gefühl, den Magnetismus des Raums völlig neu codieren, damit Richtungen aufgehen, damit die Leute fragen können usw. Mich strengt das eigentlich an, ich mag das eigentlich lieber am nächsten Tag oder zwei Tage später im Seminar, über die Vorlesung zu sprechen. Muss ich ganz ehrlich zugeben.

JP: Geht mir eigentlich auch so. Zugleich muss ich zugeben, dass ich das Vorlesung-Sprechen neunzig Minuten am Stück schon eine ziemliche Herausforderung finde. Das heißt letzten Endes sozusagen, meine Konzeptionskraft hat irgendwie eher so eine Grenze bei siebzig, achtzig Minuten. Und es ist dann tatsächlich eher pragmatisch oft auch bei mir, dass ich denke, jetzt habe den Gedanken abgerundet, manchmal habe ich auch das Gefühl, nee, da hab ich nicht richtig gut die Kurve gekriegt, aber ich weiß trotzdem nicht mehr, wie ich daran anschließen soll. Also verschiebe ich das andere vielleicht auch auf die folgende Vorlesungssitzung. Und dann denke ich mir, jetzt schicke ich sie nicht einfach weg, also frage ich sie erstmal, was sie denn vielleicht noch zu fragen haben. Das klingt wie eine Notlösung, aber es scheint mir doch auch eine Art Systematik dahinter zu sein.

Weil wenn man achtzig Minuten Vorlesungstext schreiben kann, dann würde man auch neunzig Minuten hinkriegen. Aber offenbar habe ich es irgendwie doch schon so internalisiert, dass ich mir denke, es ist auch gut, wenn noch so ein Puffer da ist, wo die fragen können.

SF: Ja, ich widerspreche mir jetzt auch und kann das auch teilen. Umgekehrt kann ich genauso, dass ich nach der Vorlesung das Bedürfnis habe – Ich kenne beide. Ich kenne auch, dass ich sage, eigentlich würde ich jetzt gerne wissen, was die alle davon denken. Und ich mag auch Vorlesungen natürlich, also alle Zwischenformate, wo man immer mal unterbricht und sagt: „Bis hierher. Haben Sie Fragen, was halten Sie denn davon?“ Sodass man da Richtungswechsel schon innerhalb des usw. Natürlich gibt es dann da so einen fließenden Übergang zum Seminar oder zum Gespräch und das würde mich jetzt auch interessieren. Wie gestaltest du denn in deiner Lehre Seminargespräche? Da machen wir ja Unterschiede, und es ist ja kein Geheimnis, dass man da steht. Man hat den Text gelesen, erst mal so, dass es in den Geisteswissenschaften gibt, es gibt dieses neue Konzept. Das neuere Konzept oder dieser Begriff heißt Flipped Class Room. Das heißt, man bereitet zu Hause die Inhalte vor, um sie dann in der Stunde zu besprechen.

In den Geisteswissenschaften kenne ich das eigentlich sowieso schon so. Also der Text, hundert Seiten oder was, manchmal sind es hundert, manchmal sind es fünfzig, der Text ist ja nicht nur seitenlang, ist ja auch unterschiedlich schwer. Der wird zu Hause gelesen und im Seminar besprochen, eigentlich ist es Flipped Class Room, das gibt es ja eigentlich schon. Aber wie kommen wir ins Gespräch, gerade mit Texten? Was hast du da für Erfahrungen?

JP: Ich mache nochmal einen Schritt zurück kurz, was ich wirklich besonders liebe, sind eigentlich die Gespräche, wenn die neunzig Minuten Vorlesung vorbei sind. Und dann kommen Studierende, die mich offenbar auf eine andere Weise adressieren wollen offenbar als aus dem Vorlesungsraum heraus. Das ist, glaube ich, auch so eine psychologische Sache. Irgendwann ist man dann froh, jetzt hat man diese neunzig Minuten Vorlesung hinter sich, und kann irgendwie ganz anders in den Gesprächsmodus umschalten. Das, was du vorhin beschrieben hast, dass man dieses Um-Magnetisieren irgendwie als unnatürlich empfindet. Das empfinde ich als vollkommen natürlich, sobald sozusagen das Mikrofon ausgeschaltet ist, und die kommen zu mir und sprechen und so würde ich idealerweise –

SF: Stimmt, teile ich auch. Jetzt widerspreche ich mir auch. So stark bin ich dann gar nicht. Das kenne ich auch. Natürlich, ist es ja immer alles anders. Ja, kenne ich auch. Entschuldigung, ja?

JP: Vielleicht, weil ich diese Art von Gespräch nach der Vorlesung mag, würde ich das gerne auch in die Seminarsitzung transportieren, was aber sicher natürlich nicht immer klappt, einfach weil offenbar so ein Ende etwas anderes ist als ein Anfang. Das kennen wir, glaube ich, alle, dass sozusagen der Einstieg in ein Seminargespräch manchmal schwierig sein kann.

SF: Gibt es da Techniken? Bist du dir da irgendwelcher Techniken bewusst, die du anwendest? Wie öffnet sich der Mund?

JP: Ich glaube, meine sehr simple Technik, von der ich auch nicht weiß, ob die gut ist, ich aber einfach anspreche, weil ich schrift- und textorientierter, also ein Fach hab, das darauf sich konzentriert. Ist schon, dass ich runterskaliere. Wir haben erst mal fünfzig Seiten. Und das ist ja der Brocken, der einen zum Schweigen bringt. Also sage ich, wir nehmen nicht unbedingt den Anfang, aber gehen auf Seite sieben und schauen uns genau die Passage, aus welchen Gründen auch immer, an. Ich mache gerne den Auftakt selbst oder lass Studierende den Auftakt nehmen, diese halbe Seite nochmal laut zu lesen.

SF: Ah ja, sie wird noch mal hergestellt regelrecht.

JP: Genau, das ist ein guter Gedanke, finde ich, dass es nochmal eine andere Gestalt kriegt. Nicht diese amorphe Gestalt des Textes der fünfzig Seiten, die sich, wenn man am Ende ist, schon wieder angefangen hat, sich zu entziehen. Sondern eben in der Größe, wo sich Text präsent macht und nicht entzieht.

SF: Das ist für den Film und auch in Bildender Kunst möglicherweise dankbarer, weil wir da die Medienwechsel alle irgendwie wegnuscheln. Also wenn ich natürlich mit Tageslichtprojektor oder sage ich jetzt mal, mit Beamer oder was im Seminar einen Film an die Wand werfe, dann ist das nicht der gleiche wie im Kino. Eigentlich müsste man das mit der Schwarzweißkopie vergleichen mit einem Ölgemälde, also so etwa. Auf der Ebene ist es eigentlich. Trotzdem haben wir alle gelernt durch diese Medien hindurch, die Durchsichtigkeit, und dann zeigt man den Ausschnitt und redet darüber, lässt ihn vor- und zurückfahren usw. und merkwürdiger Weise funktioniert es besser als mit Texten, es ist ganz eigenartig, und das ist das Interessante daran, dass man in der Filmwissenschaft so lange gesagt hat, Gott sei jetzt haben wir die Aufnahmegeräte. Jetzt entzieht sich der Text nicht mehr, beim Buch sei es anders. Mein Erlebnis beim Buch, beim Text ist eigentlich, dass der geschriebene Text sich am allermeisten entzieht. Es gibt nichts, was sich so entzieht wie der geschriebene Text. Weil man immer wie so eine Nadel auf der Schallplatte – Ich bin eigentlich immer nur an einer Stelle in der Rille. Die ganze Arie kriegt die Nadel nie mit.

JP: Lustig, dass du das gerade sagst, weil ich habe gerade an Praktiken in der Musikwissenschaft gedacht, in der ich auch mal nicht so sehr in der Lehre, sondern in der Forschung beteiligt war. Lange Zeit war es in der Musikwissenschaft vollkommen verpönt, Ton – also, Musik als Ton zum Erklingen zu bringen.

SF: Ach ja.

JP: Es galt als einfach nicht seriös. Man hatte natürlich auch kein Power Point, sondern hat gesagt: Wenn Sie sich die Partitur anschauen, dann nehmen Takt 125 bis 135, dann erkennen Sie, wie der kontrapunktische Satz organisiert ist. Aber nein, auf gar keinen Fall eine Schallplatte auflegen.

SF: Das Geschriebene.

JP: Genau. Und in ähnlicher Weise glaube ich, dass auch bei uns stärker text- und bildorientierten Wissenschaften, es eine komische Distanz gegenüber diesem Blick aufs Detail gegeben hat. Und zwar genau diesen Blick aufs Detail, den wir jetzt gerade als produktiv und hilfreich für die Lehrenden und für die Lernenden beschrieben haben. Und das andere Ideal ging immer wirklich vom Großen aus, glaube ich. Und noch in meinen Studienzeiten wäre selbst diese Sache, über die ich jetzt am Anfang gesprochen habe, nämlich gemeinsam einfach den Text nochmal im Seminar laut zu lesen und sozusagen durch Betonung und Gestik des Dozenten oder der Dozentin klarzumachen: Ja, das ist doch deshalb interessant.

SF: Ja, eine Intonation.

JP: Ja und wobei das schon fast zu ist. Es gab schon eine akademische Tradition, die eben immer das Akademische mit dem…

SF: Ewigen verbindet.

JP: Dem Großen und –

SF: Mit dem Bleibenden, mit dem Nicht-Individuellen, mit dem Nicht-Performativen. Mit dem Nicht-Ephemeren. Das ist da alles drin. Das ist natürlich hoch interessant, weil das Geschriebene, das ist eine Behauptung. Roland Barthes hat den Text ja nie gefunden. Er hat ja gesagt, im Leseprozess, ich lese es dreimal, viermal, fünfmal, es steht immer etwas anderes da. Ich lese immer ein anderes Buch. Soweit geht er dann. Man liest immer andere Stellen. Stand das vorhin schon drin? Man würde es ja nie rausfinden.

Jean-Luc Godard hat gesagt, ich bin ja noch nie zum zweiten Mal in dem Film gewesen, ich sehe ihn ja zum ersten Mal zum zweiten Mal, sodass der Ereignischarakter auf einmal Einzug gehalten hat seit den 60er Jahren. Und die Theaterwissenschaft, wenn ich das richtig verstanden habe, dann hat erst mit den… Also, als ich angefangen habe zu studieren, das war Anfang der 90er Jahre, da gab es eine große Diskussion Aufführungsanalyse, Aufführungsanalyse, Aufführungsanalyse. Da habe ich mich immer gefragt: Was ist denn? Weil ich war kein Theaterwissenschaftler, ich habe erst viel später angefangen in die Theaterwissenschaft mich auch rein. Ich habe mit Kunstgeschichte und Filmwissenschaft angefangen. Die haben immer von der Aufführungsanalyse und dann ging es immer die Partitur usw. um solche Dinge, die beim Tanz eine Rolle – Wo es immer darum ging – Und viel später habe ich erfahren, dass es in den 90ern wirklich eine Umbruchsituation war, dass man vom Dramentext, wie du es für die Musikwissenschaft beschreibst, die Theaterwissenschaft war bis dahin eine Dramenlektüre, aber es ging nie die Bühne. Das Performative hat man akademisch nicht für… da war irgendwas, obwohl der Impressionismus schon so uralt schon ist, aber es muss irgendetwas Bleibendes, da muss irgendwie ein Nimbus daran hängen oder wie auch immer, wie heißt so was? So ein Dogma des Bleibenden.

JP: Interessanterweise reden wir jetzt gerade sehr viel über das, was Vorlesung war und was Seminar ist, aber ich glaube, mit gutem Grund. Weil ich glaube, dass Seminar ist und die Vorlesung ist immer auch das, was es war, und wird es auch, wie gesagt, sein, was es war. Selbst wenn wir jetzt viel jünger wären, du bist ja der Junge hier am Tisch, aber trotzdem. Auch die ganz jungen Dozenten sind irgendwie immer auch schon das, was ihre Lehrerinnen und Lehrer gewesen sind. Durch uns sprechen sehr viel mehr Leute als wir selbst. Unsere Studierenden werden irgendwie bestimmt auch mal ein bisschen mit unserer Stimme sprechen. Und das ist ja auch gut so, weil sie ja nicht identisch bleibt, sondern wie der Text sich ständig weiterentwickelt. Und wir entwickeln uns ja mit. Dieser Aufreger von vor zehn Jahren, dass Studierende auf einmal angefangen haben, in ihren Referaten jeden dritten Satz mit „genau“ abzuschließen. Oder zu beginnen. Haben wir ja längst übernommen und finden wir inzwischen keine Aufregung mehr Wert. Das heißt, in den kleinen Dingen ändern wir uns immer gegenseitig und werden wir sozusagen unsere eigene Zukunft.

SF: Lehre lernen beim Lernen. Das ist überhaupt, dieser Prozess, dass wir also quasi von den Lernenden immer auch lehren. Ich wüsste gar nicht die Position, so deutlich zu verteilen. Wir lehren und lernen da auch gemeinsam. Jetzt sind wir also doch ganz schön zahlreich am Tisch, obwohl wir es ganz am Anfang versucht haben zu reduzieren. Unsere Lehrer sitzen mit am Tisch, unsere Lehrerinnen usw. Und tatsächlich in vielen Gesprächen über Lehre – nicht jetzt nur hier im Podcast, sondern überhaupt, so kam ich ja auch drauf – in vielen Gesprächen über Lehre war die Situation immer die gewesen, wo habe ich eigentlich Lehren gelernt? Na, bei denen, bei denen ich gelernt habe. Ich selbst erlebe das immer wieder auch bewusst, oder ich kann es mir bewusst machen, wenn ich mir überlege, wie komme ich jetzt rein? Wie werde ich diesen Vortrag machen? Ich greife zurück auf etwas, auf einer meiner Lehrerinnen und Lehrer oder eine Vortragssituation sage, und sage dann: Ich mache das jetzt mal wie der oder wie die.

Und dann ist es wie so ein Schauspieler. Natürlich werde ich nie der Hamlet, sondern auch durch den Hamlet spreche dann auch mehr oder weniger ich. Auf diese Art bekomme ich da auch eine Figur oder eine Persona in diesem Sinn, durch die dann das, was ich spreche, auftritt. Und ich selber kann in dieser Form zur Aufführung kommen. Und bin dann letztlich der Dozent Simon Frisch, der aber durch seinen alten Professor oder durch seine alte Dozentin aus den 1990er Jahren heraus überhaupt eine Präsenz erst mal gewinnt. Die dann performativ von und durch mich aufgeführt wird.

Und insofern sind wir da immer sehr viele. Und wir wollen auch werden, und ich glaube, das ist auch die Aufgabe in unseren verschiedenen – Ich glaube, so entstehen und in den Disziplinen und in den Disziplinen Schulen, dass wir… ich lerne das immer in den Seminaren, die ich gebe zur Einführung in wissenschaftliches Arbeiten. Wo wir immer wieder an den Punkt kommen, man kann das auch alles irgendwie machen. Nur dann gehört man eben nicht dazu. Also dann versteht einen keiner und man wird nicht aufgenommen, man wird nicht Teil dieser Sprach- und Kulturgruppe. Wir bilden im Grunde kleine Milieus, in denen wir uns verständigen, schon. Und da sage ich dann immer die Zitation. Es geht natürlich darum, dass ich das Buch finde. Es gehört aber auch dazu, dass ich dadurch signalisiere, ich bin Romanist, ich bin Germanist, ich bin Filmwissenschaftler. Und das mache ich durch die Form, je nachdem.

Ich ziehe einen Anzug an, ich ziehe einen Jogginganzug an, ich habe ein T-Shirt an. Natürlich kann man sagen, ich habe halt was an, das wärmt. Aber nein, ich mache mich zugehörig zu dieser oder zu jener Situation. Ich positioniere mich in irgendeiner Art und Weise.

JP: Das sind natürlich auch wieder tatsächlich alles Adressierungsprozesse. Auch das ist bei mir regelmäßige Formel genau in diesen Lehrveranstaltungen und Einführungen in die Textanalyse. Der Versuch zu vermitteln: An wen richtet sich Ihr Schreiben? Also nicht nur jetzt mein Schreiben, wenn ich die Vorlesung – sondern wann immer wir schreiben, adressieren wir letzten Endes. Vielleicht manchmal auch nur an uns selbst, aber das sollte ja eher die Ausnahme sein beim wissenschaftlichen Schreiben. Und da hast du natürlich vollkommen recht: Das splittet sich auch auf. Und das darf sich auch aufsplitten. Dass muss nicht sozusagen – Ich sage immer, dass es sehr wichtig ist, dass sie nicht nur an die Dozentin oder den Dozenten denken, wenn sie die Adressierung ihrer Arbeit formen. Vielleicht aber schon auch an die. Es wäre, es ist, glaube ich, auch kein gutes Rezept, beim Schreiben, nur eine abstrakte Adresse zu haben. Abstrakte Adressen funktionieren halt nicht.

SF: Das zieht es irgendwie nicht. Es entsteht kein Zug im Schreiben. Warum hast du gesagt, es sollte nur die Ausnahme bleiben, an sich selbst zu adressieren?

JP: Ja, weil die anderen sollen es ja verstehen. Das ist ja die Frage des privilegierten Zugangs, den wir zu uns selbst haben, dass wir von uns selber doch gerne annehmen, wir verstünden uns.

SF: Das teile ich nicht, was mich betrifft.

[Beide lachen]

JP: Jetzt, aber es gibt sicher Situationen, in denen du dir einigermaßen vertraust.

SF: Dass ich glaube, was ich denke.

Das kann ich sogar weitertreiben, fällt mir gerade ein, in Hinsicht auf Form und Format und Medium. Wir haben ja jetzt hier einen Podcast z.B. gewählt. Man hätte natürlich auch sagen können, schreibt einen Essay oder ein Traktat oder ein Buch über Wissenschaft, über Lehre und Lernen. Wir hätten auch einen Briefwechsel oder was aufsetzen können. Format ist jetzt ein Podcast, in dem Fall aus verschiedenen Gründen. Da weiß ich es gar nicht so eindeutig.

JP: Es wäre nicht so einfach, ich weiß nicht, wie viele Leute du angeschrieben hast, aber sagen wir mal, den zwanzig Leuten gesagt hättest, wir machen eine Essay-Lesung, schreibt mir bitte jeweils fünfundvierzig Minuten Text, hättest du wahrscheinlich weniger begeisterte Rückläufe gekriegt. Der Mensch unterhält sich halt gern.

SF: Das ist richtig, das Gespräch ist ein wunderbares Format. Eines meiner Lieblingsformate überhaupt. Was die Produktion von Verbalartikulationen betrifft, aber auch die Organisation oder Herstellung von Situationen. Ein Gespräch ist etwas wirklich was wirklich Schönes, ich merke das jetzt auch in diesem Gespräch wieder.

Die Adressierung aber und die Medialität. Ich lerne z.B. bei meinen Kindern, „Ihr lest ja gar nicht, beschäftigt ihr euch denn mit gar nichts?“ Aber wenn ich genauer hingucke, die sind jetzt vierzehn und achtzehn, sie hören eben Podcasts, und sie schauen sich bestimmte Videos usw. an. Das heißt, sie weichen einfach, oder sie, was heißt, sie weichen nicht aus, sondern sie verlagern sich in andere Artikulationsformen, in denen sie dann das Wissen, was sie interessiert, finden können. Und wo sich ihr Wissen und ihr Interesse miteinander verbinden kann. Und dann ist es eine mediale Form, die selber schon eine Adressierung, also The Medium Is the Message könnte man hier anschließen. Eine mediale Form anschließen, die selber schon eine Adressierung enthält. So wie wir vorhin eben gesagt haben, die gehörte Musik kommt nicht in die Universität. Musikwissenschaftler beschäftigen sich nicht mit, Performances und so weiter werden auch nicht angeguckt.

Es ist natürlich ganz interessant, dass insbesondere in Europa, Amerika, in den 1960er Jahren die Ereignishaftigkeit des Textes und auch des Geschriebenen plötzlich entsteht, mit Roland Barthes, wo der Text nur die Partitur ist, einerseits des Schreibens, ganz viel mit Ecriture usw. Das habe ich ewig nicht verstanden, warum das Geschriebene ein Vorgang sein soll. Es dauerte ganz lange, bis ich verstanden habe, dass das Geschriebene selbst ein Ereignis ist, ein Verlauf ist. Und das Lesen eben dann letztlich auch und das Performative hat eine sehr starke Lebensphase in den 60ern, wo wir das Ephemere, das Sinnliche, das Einzigartige, das Ereignishafte und so weiter in den Blick bekommen. Der ganze Poststrukturalismus beseelt letztlich beseelt, die Struktur wieder ins Bewegte aufzulösen. Was haben wir noch vergessen?

JP: Wir haben eigentlich erst angefangen [Beide lachen] Ja, also ich meine, es ist ja tatsächlich so, dass Lehre Vorbereitung fordert. Darüber haben wir über die Vorlesung und ihre Vorbereitung gesprochen. Ich glaube, dass das Seminar, also das Gespräch, in einer ganz anderen Weise Vorbereitung fordert. Du hast es schon so angedeutet. Natürlich kann man es vorformatieren, aber es klappt nicht. Bevor wir uns jetzt hier die Mikrofone eingeschaltet hatten, hast du gesagt, wir werden uns über etwas ganz anderes unterhalten, als wir jetzt gerade denken, dass wir uns unterhalten. Das ist ja bei der Vorlesung anders. Die Vorlesung erfüllt in der Regel den Plan, den er gibt.

SF: Das ist richtig, die Vorlesung, die wird geschrieben, dann wird sie gelesen und dann vielleicht sogar danach nochmal gedruckt und veröffentlicht. Das heißt, es ist ein anderer Vorgang als ein Seminar. Das Seminar hat einen mehr oder weniger offenen Verlauf. Es ist auch völlig richtig. Ich habe das zwei oder drei Mal Hast du schon Seminare nochmal gehalten? Was hast du für Erfahrungen gemacht?

JP: Ja, habe ich auch gemacht. Manchmal parallel, wenn ich zeitweise an zwei Universitäten gleichzeitig war. Ich glaube, die meisten erleben diese komischen Überlagerungseffekte, dass man nicht mehr weiß, verdoppelt man sich schon wieder, wir verdoppeln uns jetzt schon in der Vorstellung wieder, dass man nicht weiß: Bin ich jetzt der von gestern? Oder habe ich das jetzt schon in dieser Sitzung? Oder in der Parallelsitzung gesagt? Weiter.

SF: Das kenne ich auch. Nach der dritten, vierten Woche sagt man dann, habe ich es Ihnen schon erzählt oder waren es die gestern oder werde ich das morgen erzählen? Dann kommt alles durcheinander. Ich habe aber auch erlebt, dass ich ein Jahr später noch mal dasselbe in dem Seminar mache und es ist erstens überhaupt nicht dasselbe, dann habe ich Glück, weil es mich dann wieder interessiert, und das Interesse und das begeisterte Entfachen ist dann wieder da, und es bleibt einigermaßen. Aber ich habe es dann festgehalten, habe es aufgeschrieben usw. Damit habe ich noch nicht die Erfahrung gemacht, dass ich sage, das mache ich jetzt genauso nochmal. Es ist irgendwie anders. Vielleicht wie wenn van Gogh seinen Pinsel dahin macht und er malt dann diese Landschaft dahin, und dann komme ich her und will den Pinselstrich genau an dieselbe Stelle nochmal setzen.

Das ist ja ein ganz anderer Gestus, mit dem ich das mache, als der da entstanden ist. Und ich glaube, so könnte man den Unterschied machen, so empfinde ich zumindest.

JP: Und dann ist natürlich ein Format in der seminarförmigen Lehre, worüber wir noch gar nicht gesprochen haben, das, was ja doch immer noch bei vielen Kollegen und auch bei mir einen wichtigen Teil bildet. Das, was man an Präsentation oder Referat oder wie auch immer nennt. Der Input, der das Gespräch initiieren soll, von studentischer Seite aus.

SF: Die Stimmen der Studierenden im Raum, die man eigentlich schon in der ersten Sitzung alle mal gehört haben muss, dass jeder weiß, so klinge ich hier und so kann ich das künftig machen. Lieber Jörg, die Zeit rennt uns davon, wie in jedem Seminar auch, wir sind schon am Ende.

JP: Ruck zuck.

SF: Ich danke dir sehr für dieses schöne Gespräch.

JP: Ja, vielen Dank von mir.

Outro: Das war Zwischen Magie und Handwerk – ein Podcast über Lehre und Lernen an der Bauhaus Universität Weimar. Neue Folgen erscheinen wöchentlich auf allen gängigen Podcast Plattformen. Abonniere den Podcast, keine weitere Folge zu verpassen.

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