Bonus Ep. – Gespräch mit Lilli Hallmann
Shownotes
Unser Host: Dr. Katrin Richter ist stellvertretende Direktorin, Abteilungsleiterin und Fachreferentin an der Universitätsbibliothek der Bauhaus-Universität Weimar. Sie wirkt bei zahlreichen Bildungsprojekten wie die »Schreibnacht« und die »Weimarer Stummfilm-Retrospektive« im Rahmen des Kunstfest Weimar mit. Zudem beteiligt sie sich in universitären und bibliothekarischen Gremien.
Zusammenfassung: »Promovieren und Arbeiten mit einem chronisch kranken Kind« ‒ unter dieser Überschrift trafen sich Gast-Hostin Katrin Richter und Lilli Hallmann. Sie sprechen darüber, wie Lilli für ihren 13-jährigen Sohn Leander sorgt. Nach einer Infektion und einem anschließenden Ärztemarathon wurde bei ihm die chronische Krankheit ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronisches Fatigue Syndrom) diagnostiziert. Im Gespräch geht es vor allem darum, wie sich das Leben seit der Erkrankung verändert hat und wodurch der Familienalltag geprägt ist. Dabei muss die alleinerziehende Wissenschaftlerin verschiedene Rollen ‒ Ärztin, Anwältin, Pflegerin ‒ einnehmen, um für ihren Sohn da zu sein und die enormen Anforderungen zu bewältigen. Besonders berührend sind die vier Hinweise, die Lillis Sohn für die Podcast-Aufnahme verfasst hat. Sie richten sich vor allem an junge Menschen, die ebenfalls von ME/CFS betroffen sind.Diese Folge ist zugleich ein dringender Appell an die Verbesserung der Versorgung und der Erforschung dieser chronischen Krankheit, an der aktuell in Deutschland weit über 500.000 Menschen, darunter 80.000 Kinder und Jugendliche, leiden.
Das Gespräch fand am 27. November 2024 in Weimar statt.
Mitwirkende: Host: Katrin Richter Musik: Sebastian Lederle Artwork: Andreas Wolter Ton und Technik: Steven Mehlhorn Sound-Design: Moritz Wehrmann Schnitt: Katrin Richter, Jonas Rieger Marketing und Social Media: Claudia Weinreich, Marit Haferkamp Transkript: Laura Khachab Produktion: Nicole Baron Distribution: Jonas Rieger, Ulfried Hermann
**Weiterführende Links: ** https://www.mecfs.de/was-ist-me-cfs/ https://nichtgenesenkids.de/ https://www.bundesgesundheitsministerium.de/service/publikationen/details/myalgische-enzephalomyelitis-chronic-fatigue-syndrome-me-cfs.html https://evkb.de/kliniken-zentren/kinder-jugendliche/kinder-und-jugendmedizin/schwerpunkte/ambulanz-fuer-post-covid-weitere-postinfektioese-fatiguesyndrome-sowie-mecfs https://www.uni-weimar.de/de/medien/institute/grama/personen/promovierende/lilli-hallmann/
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Bonus-Ep. Gespräch mit Lilli Hallmann
LH = Lilli HallmannKR = Katrin Richter
KR: Hallo und herzlich willkommen zu einer neuen Folge von Zwischen Magie und Handwerk. Mein Name ist Katrin Richter und ich freue mich, dass Ihr da seid.
Wir werden uns heute einem Thema widmen, das viel zu selten angesprochen wird. Wir werden heute nämlich darüber sprechen, was es heißt, als Mitglied der Universität einen Angehörigen zu pflegen. Was heißt das, wenn ich mein chronisch krankes Kind versorge? Wie wirkt sich die Krankheit auf das gesamte Leben aus? Wie verändert sich das Leben? Und was bedeutet es überhaupt, ein bedürfnisorientiertes Leben zu führen?
Ich freue mich sehr, dass Lilli Hallmann heute bei mir ist. Sie ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Fakultät Medien der Bauhaus-Universität Weimar und Promovierende im Graduiertenkolleg »Medienanthropologie«.
Hallo Lilli, herzlich willkommen.
LH: Hallo.
KR: Schön, dass Du die Zeit gefunden hast, dass Du da bist und dass Du überhaupt da sein kannst. Wie geht es Dir?
LH: Ja, mit dieser Frage sind wir schon mal mitten im Thema drin, denn die ist sehr schwer für mich zu beantworten. Unter anderem aus dem Grund, dass ich oft denke, wenn ich wirklich ehrlich antworte, das wird womöglich das Gegenüber gar nicht richtig aushalten können. Aber wir sind ja heute auch hier, um wirklich ehrlich über diese Thematik zu sprechen. Und deshalb möchte ich hier die ehrlichste Antwort geben: Es geht mir wirklich beschissen. Und »beschissen« ist wahrscheinlich noch nicht mal ein Ausdruck, der ansatzweise da rankommt an dieses Gefühl. Aber ich kann es mit den Worten beschreiben, dass ich das Gefühl habe, meinen Sohn verloren zu haben, obwohl er lebt. Und ich nicht weiß, wann und ob er überhaupt sein Leben zurückbekommt und wenn ja, in welchem Umfang.
Und diese Frage herunterzubrechen ist ganz schwer. Und ich weiß auch nicht, wie sinnvoll sie ist, aber sie kann ja heute hier auch im Hintergrund stetig mitlaufen. In jedem Fall zeigt es mir allein solche Fragen, die ja eine ganz gängige, ja, Alltagspraktiken wie Smalltalk eben sind, dass es ganz schnell eine Differenz aufmacht zwischen mir und meiner gefühlten oder auch tatsächlichen Parallelwelt und den in Anführungszeichen normalen, nicht betroffenen Außenstehenden. Und so fühle ich mich im Moment häufig eben physisch oder auch emotional abgeschnitten, weil es so wenig Berührungspunkte mit Nichtbetroffenen mehr gibt.
Und ich merke da auch einen Unterschied in der Kommunikation, beispielsweise mit einer Freundin, die ich jetzt in der Zeit der Erkrankung meines Kindes kennengelernt habe, deren Tochter ist auch betroffen, und hier geht es leichter. Wir fragen uns nie: »Wie geht es Dir?« Oder wir sagen auch nie am Ende eines Gespräches: »Mach's gut!« oder »Gute Nacht!« zum Beispiel oder ähnliche Sprachrituale, die wir eigentlich gewohnt sind, weil wir eben voneinander wissen, dass es nichts Gutes mit dieser Erkrankung gibt. Und wir wünschen uns dann eher »eine möglichst gute Nacht« beispielsweise oder für das Kind »einen möglichst symptomarmen Tag«, ja.
KR: Wir werden gleich darauf zu sprechen kommen, welche Krankheit Dein Sohn hat, aber vielleicht vorab: Kannst Du Dein Leben, kannst Du Euer Leben vor der Krankheit beschreiben? Wie und seit wann bist Du, seid Ihr in Weimar? Weshalb bist Du an die Bauhaus-Universität gekommen?
LH: Ja, wir sind seit 2017 in Weimar. Vorher habe ich Dramaturgie in Leipzig studiert mit dem Schwerpunkt Schauspiel und Performance. Und dort war mein Kind im Kindergartenalter und ist hier, nachdem wir in Weimar angekommen sind, eingeschult worden in die Grundschule. Und ich habe an der Fakultät Medien Medienwissenschaften im Master begonnen zu studieren und bin anschließend nach der Verteidigung der Masterarbeit, das war dann schon im Lockdown, an das DNT Weimar als Regieassistentin gegangen und mein Sohn war in der Zwischenzeit dann auf das Gymnasium gewechselt. Genau, und am DNT war ich ungefähr ein Jahr. Es war trotz Lockdowns sehr viel zu tun. Man hat ja fleißig weiter produziert und vorbereitet, vorproduziert und genau, ich bin aber wie gesagt, nach einem Jahr ungefähr an die Bauhaus-Uni zurückgekommen für das Forschungsprojekt zur Geschichte der Bauhausstraße 11 und hatte darin dann eine Stelle für, ich glaube, es waren ungefähr zwei Jahre, und hatte zum Ende dieser Zeit parallel eine Stelle bekommen, eine Promotionsstelle am Graduiertenkolleg »Medienanthropologie«.
Und ja, mein Kind neben der Schule war vor allen Dingen im Sportverein aktiv, also überhaupt sehr sportlich auch in der Schule, in so einer Zusatz-Sport-AG und mit seinen Freunden unterwegs. Ja, was junge Heranwachsende so tun: Parcours hat er auch gemacht, und wo sie so verrückt über Mauern springen oder von Mauern herunter und daraus auch Filme gedreht. Und er war für sein Alter auch, wurde mir zumindest so rückgemeldet, auch sehr selbstständig, kam hier in der Stadt super klar mit den kurzen Wegen, selbstständig zu fahren, und ja, so hatten wir unseren Alltag hier.
Und Leander selber hat auch einen Bezug tatsächlich auch persönlich zur Uni. Gerade am Anfang, als er noch im Grundschulalter war, musste ich ihn schon manchmal zu Seminaren mitnehmen, weil er ja da noch nicht alleine bleiben konnte. Er war beispielsweise in dem Seminar zur »Hütte« bei Rebekka Ladewig. Ich weiß es noch sehr genau. Ich musste einen Vortrag halten, der war, glaube ich, gar nicht gut, aber ich habe durch ihn, glaube ich, ein paar Pluspunkte gesammelt. Und mein Kind war auch mit dabei in einem Archivbesuch, dem Landesarchiv Thüringen, in einem Seminar von Jörg Paulus. Oder unvergesslich, auch für ihn selbst, in einem Seminar von Christiane Voss. Da hatte sie zu Freud referiert und das ist meinem Kind sehr lebendig in Erinnerung geblieben. Und er konnte danach auf jeden Fall sehr viel über das Unbewusste berichten, hat er sich sehr viel gemerkt. Ja, und er war einmal auch mit bei Julia Bee im ethnografischen Filmseminar und dort mussten wir aber eher gehen, das weiß ich auch noch sehr genau, weil der Film nicht kinderfreundlich war.
KR: Also offene Türen der Universität, Dein Sohn konnte teilnehmen an Seminaren, war da einfach auch mitintegriert, war bekannt. Und Du hast ja auch auf der Webseite zum Beispiel zum Thema »Erinnerungsorte« ist ja auch sehr gut nachgewiesen, was Du an der Universität alles gemacht hast, welche Vorträge, welche Publikationen, welche Seminare Du mitgeleitet hast. Also sehr integriert auch in die Universität, das finde ich auch ganz wichtig zu erwähnen.Wann hast Du gemerkt und woran hast Du gemerkt, dass sich bei Leander etwas verändert?
LH: Ja, vor allen Dingen daran, dass all diese Sachen, die er mit so voller Begeisterung gemacht hat, wie eben gerade im Sportverein aktiv zu sein, dort hat er wirklich viele Medaillen auch gesammelt, Urkunden. Er war da in seiner Altersklasse vorne mit dabei und, ja eben sehr leistungsstark, aber auch selbst motiviert. Und daran habe ich das als Allererstes gemerkt, dass er sich auf eine Art immer mehr dorthin schleppen musste, sowohl zum Training als auch zu den Wettkämpfen. Und ich gespürt habe, irgendwas stimmt nicht. Er hat es auch gespürt, konnte das schwer kommunizieren, ja, wie auch?
Das war ein Bereich. Der andere Bereich war die Schule. Auch dort ist ihm alles leicht gefallen vorher. Er hat selbstständig gelernt, alleine die Hausaufgaben gemacht, alleine den Schulranzen gepackt. Ich musste dort fast gar nichts unterstützend leisten. Und hier habe ich auch gemerkt, irgendwie fällt ihm alles schwerer. Und zusätzlich auffällig war, dass er immer infektanfälliger wurde, und ich ihn sogar häufiger aus der Schule abholen musste, weil die Lehrenden angerufen haben und gesagt haben, hier geht gar nichts mehr, das aber auch nicht wirklich einordnen konnten. Mit Kreislaufproblemen, völlig blass, wie eine Leiche sah er aus, wenn ich ihn da abgeholt habe. Und das hat sich gehäuft und immer mehr ist bei mir so ein Gefühl, hier stimmt wirklich was nicht, ich erkenne ihn nicht wieder.
KR: Und es war ja ein langer Weg auch herauszufinden, unter welcher Krankheit Dein Sohn leidet. Kannst Du sagen, welche Krankheit das ist und welche Symptome sind da zu verzeichnen?
LH: Also die Erkrankung heißt Myalgische Enzephalomyelitis. Sie ist auch bekannt unter dem Begriff Chronisches Fatigue Syndrom und wird dann abgekürzt als ME/CFS und das werden wir auch im Weiteren hier so verwenden. Ich selber spreche vor allen Dingen von ME, weil ich, darauf können wir auch immer mal wieder eingehen, den Begriff des Fatigue Syndroms schwierig finde. Fatigue ist zwar ein Leitsymptom dieser Erkrankung, also ein chronischer Erschöpfungszustand, aber in der Gesellschaft wird das häufig eben mit einer in Anführungszeichen bloßen Müdigkeit verstanden und falsch verstanden und damit eben auch heruntergespielt. Myalgische Enzephalomyelitis bedeutet wortwörtlich erst einmal Entzündung des Hirns und Rückenmarks. Und ja, es ist eine neuroimmunologische Multisystemerkrankung, eine organische Erkrankung. Sie ist derzeit nicht heilbar, sie gilt als nicht heilbar und das, weil es keine primäre Therapie gibt, also kein Medikament, was für diese Krankheit zugelassen ist. Und das werden wir als Thema auch immer wieder im Folgenden noch aufnehmen, was daran das Problem ist.
Sie ist schon lange bekannt, seit etwa 50 Jahren, und wurde Ende der 1960er Jahre von der Weltgesundheitsorganisation WHO in die internationale Klassifikation der Krankheiten als neurologische Krankheit aufgenommen. Aber die große Schwierigkeit und, ja, das große Desaster ist, es wurde anschließend kaum dazu geforscht. Und das ist auch das, was wirklich Leander und ich leiblich, also er vor allen Dingen leiblich jetzt erleben, und was er ausbaden muss tatsächlich am eigenen Körper.
Ja, ganz wichtig zu wissen im Kontext dieser Erkrankung ist es, denn das macht sie so spezifisch und das macht sie auch so gefährlich und unterscheidet sie fundamental von anderen Erkrankungen, die auch mit einer Fatigue Symptomatik einhergehen können oder auch von anderen chronischen Erkrankungen. Das ist das Leitsymptom, die post-exertionelle Malaise, PEM abgekürzt. Also PEM und wortwörtlich übersetzt bedeutet das »Krankheitsgefühl nach Anstrengung«. Was damit gemeint ist, ist ein vorübergehender oder auch im schlimmsten Fall eine dauerhafte Zustandsverschlechterung oder das Neuauftreten von Symptomen nach körperlicher, geistiger oder emotionaler Überlastung. Und Überlastung meint hier Tätigkeiten oder auch das Erleben von bestimmten Ereignissen, die vor der Erkrankung und für uns als Außenstehende oder nicht Betroffene völlig normal waren, also das kann schon das Zähneputzen sein oder auch ein positives Erlebnis, beispielsweise, dass ein Freund zu Besuch kommt und die positive Aufregung, die damit verbunden ist oder auch vielleicht das Sprechen, kann eine anschließende PEM verursachen. Es kann auch, das war bei Leander beispielsweise mal der Fall, zu langem in einem Buch zu lesen, viele weitere Tätigkeiten. Alles, was eigentlich zu einem normalen Leben dazugehört, kann hier zu solchen Überlastungszuständen führen.
Und was es besonders schwierig macht, diese Momente auch zu erkennen und zu umgehen, ist, dass die Zustandsverschlechterung verzögert eintritt. Also nicht im Moment selber, sondern teilweise erst 24 Stunden oder manchmal zwei, drei Tage später erst. Und dann ist es umso schwieriger herauszufinden, woran lag es, was können wir also dementsprechend auch zukünftig verändern? Und das bedeutet, dass, ja, man immer wieder schauen muss, was ist meine persönliche Belastungsgrenze und wie kann ich meinen Alltag strukturieren und delegieren, um unterhalb dieser Grenze zu bleiben?
KR: Also ein ständiges Überprüfen, ein ständiges immer wieder Infragestellen der Dinge, die man so für alltäglich hält. Ist es so korrekt?
LH: Ja, genau, so kann man das gut beschreiben. Und meine Aufgabe als Mama ist natürlich auch an dieser Stelle, das fortwährend mitzubeobachten und sich selber auch dabei zu beobachten. Denn ja, man ist es ja selber auch nicht gewohnt, in diesem Miniradius zu denken, der dort noch übrigbleibt je nach Betroffenheitsgrad. Und auch ich selber habe am Anfang Dinge zu ihm gesagt oder von ihm verlangt, gewollt, die man noch gewohnt war, die eine Belastungsüberschreitung herbeigeführt haben. Also ja, das bezieht auch das eigene Umfeld, die nahen Angehörigen, wer so da ist, werden in dieser Suche nach der täglichen Baseline, unbedingt müssen sich da selber mit einbeziehen.
Und das hat also auch sehr viel mit einer Akzeptanz von Grenzen zu tun. Eine radikale Akzeptanz braucht es da an dieser Stelle. Und das wiederum ist für uns mit sehr viel Schmerz auch verbunden. Natürlich für ihn als Betroffenen am meisten, weil es auch ganz viel heißt, das nicht machen zu können, was man machen möchte, was man gewohnt war zu tun und auch, was einem bei anderen Krankheiten hilft, um gesund zu werden oder sich abzulenken oder etwas Positives reinzuholen. Normalerweise würde man ja sagen, wir laden jemanden ein, der Dich mit ablenkt oder von der Schule mal berichtet, damit Du Anschluss erhältst. Oder wir schauen einen Film, um Dich auf andere Gedanken zu bringen oder gehen nach draußen an die frische Luft, in die Sonne. Genau das sind Sachen, die hier überhaupt nicht funktionieren, sondern die Symptomatik am Laufen halten können.
KR: Ihr müsst praktisch immer das Gegenteil tun, weil sich sonst verschiedene Krankheitswerte durch Crashs verschlechtern. Kannst Du über die Symptome was sagen? Also was heißt es im Fall Deines Sohnes, der ja jetzt immerhin 13 Jahre alt ist und damit ja auch in so einem pubertären Stadium eigentlich ist. Was sind das für Symptome? Womit habt Ihr da zu tun?
LH: Das deutlichste Symptom, durch das ich nach der Infektanfälligkeit, die sich wie gesagt gehäuft hat, gespürt habe, war nach einer neuen Corona-Infektion, als er dann den absoluten Crash hatte, die extremen Muskelschmerzen. Das ist ein sehr häufiges Symptom, was mir auch in Selbsthilfegruppen ganz viele gespiegelt haben, dass das bei ihren Kindern genauso losging: ganz starke Muskelschmerzen. Er hatte es so stark, dass er nicht mehr stehen konnte, er konnte sich vor Schmerz nicht mehr aufrecht und in der aufrechten Haltung befinden, aber auch nicht ohne Schmerztabletten einschlafen. Es war wirklich heftig. Das ist ein sehr weit verbreitetes Symptom.
Die Belastungsintoleranz, das hatte ich ja schon genannt, das ist ein Leitsymptom. Darüber hinaus, geht das mit Syndromen einher, wie dem posturalen Tachykardiesyndrom, POTS abgekürzt. Das wiederum liegt daran, dass bei den Betroffenen die Blutzirkulation nicht gut funktioniert und bestimmte Bereiche permanent unterversorgt sind, insbesondere das Hirn, in das einfach nicht mehr genug Blut und Sauerstoff gelangt und hier ist auch zu einem ganz ungesunden Anstieg der Herzfrequenz kommt. Das hat Leander auch sehr extrem gehabt. Das haben wir mittlerweile durch Medikation im Griff. Aber das führt bei den Betroffenen zu Schwindel, Benommenheit, verstärkter Erschöpfung dadurch dann auch wieder, genau. Also viele können sich gar nicht auch aus diesem Kreislaufproblem heraus in der aufrechten Lage befinden oder schon Lagewechsel im Bett beispielsweise. Also ein Umdrehen oder leichtes Hochkommen führt dann schon zu Schwindel, Benommenheit, Kopfschmerzen und so weiter. Ja, insgesamt schlägt es sich auf das Immunsystem, infektanfälliger, genau, das nannte ich schon.
Viele entwickeln ein Mastzellüberaktivierungssyndrom. Das wiederum kann Allergien auslösen, die zuvor überhaupt nicht vorhanden waren. Viele Unverträglichkeiten, viele haben im Magen-Darm-Trakt Probleme, überhaupt, ja, dass dort nicht mehr gut auch die Nahrung verarbeitet werden kann, überhaupt vertragen wird. Man muss bestimmte Diäten beachten. Es gibt letztlich keinen Bereich, auf den es sich nicht legen kann.
KR: Also der ganze Körper ist betroffen, das Umfeld ist betroffen. Und wenn ich Dir zuhöre, stelle ich auch fest, dass Du wirklich ärztliches Wissen angesammelt hast, dass Du über ärztliches Wissen verfügst. Wusstest Du das schon vorher oder ist es jetzt durch die Erkrankung Deines Sohnes wichtig, darüber Bescheid zu wissen und das einschätzen zu können, was gerade in ihm und mit ihm passiert?
LH: Also das stimmt tatsächlich, ich fühle mich auch oft so, aber notgedrungen. Das muss ich wirklich betonen, dass ich zur halben Ärztin mutiert bin. Aber das liegt auch wirklich daran, dass ganz viele Ärzt*innen nicht Bescheid wissen. Und wir haben auch diesen Marathon hinter uns. Ich war mit ihm bei unzähligen Ärzt*innen am Anfang und überall wurde nicht weiter überlegt, nachdem sowas wie Herzmuskelentzündung abgeklärt war. Es wurde nicht weiter überlegt, was kann es als Nächstes sein, was muss als Nächstes abgeklärt werden. Niemand hatte ME auf dem Schirm, bis nach langer Zeit ein Arzt das ins Spiel gebracht hat.
Und ab diesem Moment habe ich mich selbstständig erkundigt, selbstständig recherchiert und mir wurde schnell klar, dass wir uns jetzt in einer Situation befinden, wo ich mir selber das Wissen aneignen muss, weil, wie ich das ja da schon wahrgenommen hatte, ein ganz großes Defizit an Wissen besteht im medizinischen Bereich, aber auch gesamtgesellschaftlich. Und wenn man da nicht selbstständig aktiv wird, ist man komplett verloren. Und was mir am meisten am Anfang geholfen hat, war die Selbsthilfegruppe NichtGenesenKids e.V. Durch diese habe ich sehr viel Informationen bekommen und überhaupt erst einmal Hinweise darauf, wo wir uns hinwenden können, wo es Menschen, Ärzt*innen gibt, die sich auskennen. Wir sind am Ende − wie weit ist das? − über 400 Kilometer gefahren mit einem schwerkranken Kind, das ist nicht gut. Bis nach Bielefeld Bethel sind wir am Ende gefahren, um mit jemandem sprechen zu können, der sich auf dem Gebiet auskennt. Also damit sei schon mal angedeutet, dass es wirklich eine katastrophale Versorgungslage ist.
Und all dieses Wissen, das ich besitze, habe ich, weil es mir niemand anderes erklären konnte, so wie man das eigentlich gewohnt ist, dass man zu einem Arzt oder einer Ärztin geht und Hilfe bekommt, sondern dass hier irgendwie die Rollen plötzlich vertauscht waren und bis heute auch immer noch sind. Ich erlebe es ja nach wie vor, dass ich an allen Ecken und Enden erklären muss, was mein Kind für eine Krankheit hat. Ich muss sie häufig sogar buchstabieren und dann als nächstes sagen, was wir jetzt brauchen. Und ich würde es mir natürlich anders wünschen.
KR: Von Betroffenen, meistens auch von Müttern, wird berichtet, dass sie, also wie Du das jetzt auch beschrieben hast, Lilli, gerade auch von Ärzt*innen oftmals entweder als »Übermütter« betitelt werden, dass sie einfach ihre Kinder mal in Ruhe lassen sollen oder aber auch endlich mal fördern sollen. Und das sagt ja auch schon viel. Also es wird nicht konkret an den einzelnen Symptomen, an der Diagnostik gearbeitet, sondern es werden halt verschiedene Vorurteile aufgerufen und das führt ja häufig auch zu Irritationen oder auch zu noch mehr Dauerstress. Also kann ich mir sehr gut vorstellen, weil jede oder jeder will ja auch das Richtige tun für sein Kind und alles möglich machen.
Wie erlebst Du das? Bist Du auch mit derartigen Stigmatisierungen konfrontiert worden in der Zeit der letzten zwei Jahre?
LH: Also ich erinnere mich auf jeden Fall sehr gut an die Zeit, als ich schon den Verdacht hatte, dass es in Richtung ME geht, dass, als es meinem Kind dann schon wirklich sehr schlecht ging und insbesondere diese Schmerz- und Erschöpfungssymptomatik im Vordergrund stand, ich nochmal eine Ärztin aufgesucht habe, die ihre Praxis im Obergeschoss hat ohne Fahrstuhl. Und mein Sohn hat es dort nicht hoch geschafft, der hat es schon fast vom Auto nicht zu der Tür geschafft. Und ich habe ihn dann getragen, das habe ich der Ärztin auch erzählt, um zu beschreiben, dass hier wirklich was im Argen ist. Und daraufhin habe ich genau das erlebt, was Du jetzt beschrieben hast und was leider so viele Mütter, sicherlich auch Väter, aber ich glaube schon auch, dass das eine geschlechtsspezifische Thematik ist, erlebt haben. Nämlich genau, dass uns, mir gesagt wurde, ich sollte das doch bitte schön lassen, weil ich dazu beitragen würde, dass seine erstens Muskeln sich zurückbilden und zweitens er in seinem Zustand auf diese Weise irgendwie unterstützt würde oder dass gefördert würde, dass er da jetzt schwach ist. Und ich war fassungslos, weil − das ist wirklich was, ich verstehe das nicht: Zu diesem Zeitpunkt war er 12 Jahre alt und ich kenne mein Kind und habe ja beschrieben, auch wie selbstständig er ist. Und selbst wenn es ein anhängliches Kind ist, es muss doch ins Auge stechen, dass man sich so etwas − weder die erwachsene Person noch das Kind − freiwillig antun würde. Und das ist das, was mich auch sehr wütend macht in all diesen Momenten.
Ich habe davon auch noch weitere erlebt, dass aus dem Unwissen heraus, das in dem Fall die Ärztin hat, entsteht eben nicht der Moment zu sagen: »Okay, ich kann diese Situation gerade nicht einordnen und ich werde mich jetzt erkundigen und ich werde aber vor allen Dingen erstmal auf dieses Kind hören und was es vermittelt, nämlich ›Ich kann nicht mehr gehen.‹« −
Und das bedeutet bei ME: Jeder gesparte Schritt, den man ja, den man dem Kind erspart, also jeder gesparte Schritt bedeutet, mehr Lebensqualität zu erhalten und jeder Schritt zu viel − und wir haben damals viele, Leander hat viele Schritte zu viel gemacht, als ich noch nicht wusste, dass es genau das zu verhindern gilt − ja, das hat definitiv mit dazu beigetragen, dass sich auch der Zustand noch verschlechtert hat.
Eine andere Ärztin − ich war noch mal bei einer anderen, als ich mich auch nach einer neuen Kinderärztin bemüht habe, weil unsere damalige das auch überhaupt nicht einordnen konnte und auch nicht bereit war, sich weiterzubilden − dann hatten wir das Erlebnis, dass eine andere Kinderärztin sogar diese gefährlichen Aktivierungsversuche ja richtig als Aufgabe verordnet hat, dass er Treppen steigen soll, und das hat ihn auch noch mal richtig heruntergewirtschaftet. Das ist richtig gefährlich.
Und deswegen ist es so wichtig, dass dieses Wissen in den Praxen selber ankommt, im Medizinstudium verankert ist, weil das so maßgeblich, gerade in dieser Anfangszeit, wenn die Krankheit, ja, zum Ausbruch kommt, doch auch ganz entscheidend ist, wie das Umfeld darauf reagiert, in welche Richtung sich das entwickelt und in welchem Ausmaß.
KR: Derzeit leiden in Deutschland über 500.000 Menschen unter dieser chronischen Krankheit, darunter über 80.000 Kinder. Das ist eine aktuelle Studie der ME/CFS Research Foundation und diese wurde vor einigen Tagen veröffentlicht. Die Dunkelziffer, wie Du das ja auch beschrieben hast, ist wahrscheinlich noch weitaus höher, weil die Krankheit oftmals erst nach ein bis zwei Jahren diagnostiziert wird, also sehr, sehr spät. Und das heißt für viele Menschen, dass sie in ihren vier Wänden isoliert leben und damit auch kaum sichtbar sind.
Wie sieht Dein Tag aus, Lilli? Wie läuft er ab?
LH: Ja, wenn ich aufgestanden bin, dann mache ich Leander das Frühstück. Das nimmt schon mal sehr viel Zeit in Anspruch, weil es viele verschiedene Handgriffe sind, die ich auch besonders leise versuche auszuführen. Das ist auch noch ein ganz großes Thema bei ME: die Reizempfindlichkeit. Und mein Kind leidet an einer extremen Reizempfindlichkeit, also gegenüber Geräuschen und Licht. Das bedeutet, alle Handgriffe, die ich im Haushalt mache, muss ich leise machen. Und das bedeutet auch, dass man dafür mehr Zeit braucht, weil man ja auch überlegen muss, wo stelle ich was ab? Wo kann ich die Dinge überhaupt erledigen, ohne dass sie ihn permanent triggern? Und ja, das fängt schon beim Frühstückmachen an.
Dann mache ich ihm die Medikation fertig und auch die ist ja nur da, weil ich dazu recherchiert habe, weil ich dazu mit Ärzt*innen im Austausch stehe. Ich beziehe diese Medikation über verschiedene Apotheken. Die städtische Apotheke, die hilft mir sehr, also die ist ein ganz wichtiger Akteur für mich, sehr hilfsbereit und auch kompetent. Aber es gibt auch eine Medikation zum Beispiel, die wird nicht hier in der Apotheke vor Ort hergestellt und da muss ich mich auch immer um die Nachlieferung rechtzeitig kümmern, damit keine Versorgungslücke entsteht für mein Kind und muss da auch deren Lieferbedingungen mitdenken. Die brauchen sehr viel Vorlaufzeit mit dem Rezept, das muss ich holen. Also, das ist erstmal ein großer Aufwand, damit all das da ist, was ich ihm eben da früh als Tabletten auf den Teller lege. Manche Sachen werden in den Getränken verabreicht, da betrifft es das Gleiche, genau. Und das bedeutet auch, dass ich mich da permanent weiterbilden muss, um auch mit dranzubleiben: Ist es noch das Richtige? Brauchen wir jetzt was anderes? Da muss ich dann wieder Rücksprache halten mit dem behandelnden Arzt in Bielefeld, ob er noch Ideen hat und wenn ja, welche Dosierung und so weiter. Also das ist sehr viel Kommunikation mit verschiedenen Akteur*innen.
Und dann nimmt insgesamt die Essenszubereitung am Tag auch einen großen Stellenwert ein, weil die Betroffenen häufig über den Tag verteilt kleine Mahlzeiten einnehmen sollen, also regelmäßig wenig essen. Und das bedeutet aber ja auch für mich, dass ich immer wieder am Tag also Essen zubereite. Das ist auch eine spezielle Diät, das ist eine histaminarme Diät. Histamin ist ein weiterer ganz wesentlicher Trigger bei ME. Und da muss ich aber nicht nur histaminhaltige Lebensmittel meiden, sondern auch mit bedenken, dass es Histaminliberatoren gibt. Das Essen muss auf eine bestimmte Art und Weise gelagert werden. Es kann nicht noch mal aufgewärmt werden. Das heißt, ich kann auch nirgends sagen, heute möchte ich mal nicht kochen, ich kann gerade nicht, ich möchte Zeit sparen, ich bestelle uns Essen. Das geht nicht. Ich mache alles frisch, ich mache alles selbst, auch das Brot, ich backe alles selber und ja, muss da auch auf diesem Gebiet mich stetig fortbilden. Ich würde sagen, diese Essenszubereitung ist wirklich auch der große Part über den Tag verteilt.
Und ja, ansonsten auch immer wieder die Krankheit verwalten. Also es ist unglaublich viel Bürokratiearbeit im Hintergrund, überall wo ich auch Hilfe bekomme, beispielsweise Pflegegeld, gibt es ja auch dadurch aber wieder Verwaltungsarbeit für mich zu tun, also wo ich Sachen rückmelden muss oder Termine wieder vereinbaren muss. Mit der Krankenkasse nochmal Rücksprache halten, mit dem medizinischen Dienst, mit der Pflegeberatung und so weiter. Natürlich auch mit der Schule in Kontakt bleiben. Mein Sohn kann im Moment auch kein Homeschooling machen aufgrund seines schlechten Zustandes, trotzdem bleibe ich ja mit der Schule in Kontakt, um ja auch dort einfach nicht den Anschluss zu verlieren. Natürlich auch die Lehrenden zu informieren, wie sieht es gerade aus, können wir noch mal was versuchen an kleinen Aufgaben: ja, nein.
Es gibt unzählige Gespräche in alle Richtungen permanent zu führen. Und als einen weiteren Einblick: Derzeit sitze ich an einem Widerspruchsverfahren. Ich habe eine Kostenübernahme eines Medikaments bei der Krankenkasse beantragt und sitze dort im Widerspruchsverfahren. Hier beispielsweise muss ich mir auch juristische Sachen aneignen und auch wieder mit der Ärztin im Austausch sein dazu. Also es ist sehr vielfältig und zwischendrin mache ich meine Büroarbeit und versuche ein bisschen was, ja, na klar, auch für mich, für die Uni zu machen. Und aber auch da, wie vielleicht schon deutlich geworden ist: Ich habe halt nie einen langen Zeitraum am Stück, also so wie man sich das wünscht, für die Doktorarbeit konzentriert zu lesen. Da muss ich schon wieder aufstehen und das Essen zubereiten zum Beispiel.
Ja, und dann nimmt es natürlich auch Zeit in Anspruch oder ich muss sie mir nehmen, und es geht gar nicht anders, all das auch zu verarbeiten. Also ich habe das Gefühl, ich befinde mich wie in einem Trauerprozess oder wie auch immer man das nennen kann. Aber überhaupt sich Ressourcen zu bewahren, das auch auszuhalten und damit bin ich auch jeden Tag beschäftigt.
KR: Ja, das erfordert immens viel Kraft. Also diese täglichen Kämpfe um das Medikament, das ist ja auch eine finanzielle Unwägbarkeit, wo nicht klar ist, wie geht das weiter? Also und das muss alles geklärt werden. Und wie wir das vorhin auch kurz schon erwähnt haben, Du bist alleinerziehend, Du hast sicher auch Freunde, die damit unterstützen können, aber an erster Stelle bist Du da allein.
LH: Ja, und es ist auch ganz schwierig, selbst die paar Hilfsangebote, die es so gibt, wie zum Beispiel dadurch, dass mein Kind eine Pflegestufe erhalten hat, stehen mir schon bestimmte Sachen zu, die ich nutzen könnte. Beispielsweise, dass man vielleicht gewisse Care-Arbeit im Haushalt abgeben könnte. Aber auch hier, diese Sachen kann ich im Moment gar nicht nutzen, weil man die Personen, die da kommen würden, von außen, so stark einweisen müsste, dass das allein schon wieder total anstrengend ist. Ja, es erfordert so viel Anpassungsfähigkeit, und deswegen gibt es wenig, was im Haus selber, in der Wohnung selber wirklich abgegeben werden kann. Und den finanziellen Aspekt, den Du erwähnt hast, das ist wirklich, ja, das finde ich gut, dass Du das erwähnt hast, weil ich auch durch die Selbsthilfegruppe weiß, dass sich viele Familien die Medikamente nicht leisten können und selbst die wenigen Therapien, die zur Verfügung stehen, aus finanziellen Gründen häufig gar nicht in Anspruch genommen werden können. Und das ist wirklich eine Katastrophe.
KR: Vielleicht mal ein kleiner Lichtblick an dieser Stelle. Ich habe dann noch einen ganz kleinen.
Für Universitätsangehörige gibt es Anfang des kommenden Jahres zum zweiten Mal eine Fortbildung, die sich an pflegende Angehörige richtet. Das ist vor allen Dingen auch präventiv gedacht. Chronisch kranke Kinder sind da eher noch nicht so im Blick, aber trotzdem ist es ja schon mal ein Signal auch für ein Gesundheitsmanagement einer Institution, dass man darauf Wert legt und dass das natürlich immer auch unter freiwilligen und datenschutzsicheren Aspekten läuft. Aber umso wichtiger finde ich, dass wir beide heute darüber auch sprechen.
Welche Unterstützung, Lilli, bekommst Du von der Universität?
LH: Also erst einmal für mich sehr unterstützend und erleichternd war die Nachricht, dass ich eine Stellenverlängerung über die DFG erhalten konnte, ja, aufgrund der Mehrbelastung und der Pflege von Angehörigen. Und ja − natürlich ganz wichtig und darüber bin ich so dankbar − von Anfang an war erst einmal Verständnis da im Kollegium, bei meinem Doktorvater Jörg Paulus, bei der Leiterin des Graduiertenkollegs Christiane Voss.
Und das ist natürlich etwas, was ich jeden Tag im Hintergrund weiß, dass dieses Verständnis da ist und ich da nicht zusätzlich noch Ängste haben muss, mich erklären zu müssen, warum es jetzt gerade immer noch wenig geht oder ich gerade immer noch nicht beim Plenum erscheinen kann beispielsweise. Und auch da weiß ich von ganz vielen anderen, die haben eben dieses Glück nicht und haben nicht verständnisvolle Arbeitgeber*innen und geraten hier zusätzlich in ganz massive Stresssituationen. Und das ist eben auch ein Punkt, den ich ansprechen möchte: Das kann nicht sein, dass das vom Glück abhängt, wie sehr man zusätzlich durch existenzielle Fragen noch belastet wird. Aber ich bin natürlich froh, dass es hier wirklich ein sehr verständnisvolles Umfeld gibt.
Und ich möchte auch noch ein konkretes Medium nennen, was ich über Gleichstellungsmittel erhalten habe. Das klingt vielleicht erstmal banal, aber ich habe auf meinen Wunsch hin ein Babyphon bekommen über die Universität und das hilft mir ungemein. Im Moment ist es das wichtigste Kommunikationsmittel oder Verbindungsglied zwischen meinem Sohn und mir, weil er nicht über Sprache viel im Moment mit mir kommunizieren kann. Er ist auch zu schwach, um mich, ja, laut zu rufen, wenn er was braucht. Und über dieses Babyphon kann ich ja auch schon ein leises »Mama« hören und weiß, jetzt komme ich und es gibt etwas, er braucht etwas. Und ja, also das ist ganz viel wert, weil es erspart ihm auch unnötige Gänge von mir in das Zimmer, was auch schon zu viel ist, auch schon ein Störfaktor ist. Allein Tür auf, meine Präsenz, eine unnütze Frage, das ist alles zu viel, das muss man sich alles sparen. Und da hilft dieses Babyphon. Ich höre halt, wenn er wirklich was möchte und dann komme ich und ja, also es können manchmal vermeintlich kleine Sachen sein, die dann im Alltag wirklich eben für diesen Moment helfen.
KR: Dein Sohn weiß ja auch, dass wir jetzt dieses Gespräch gemeinsam führen und er hat etwas aufgeschrieben. Magst Du das vorlesen?
LH: Ja, ich fand das erst mal total spannend, als ich ihm gesagt hatte, dass wir dieses Gespräch hier führen und ob er etwas mit hineingeben möchte, dass er sofort an die Betroffenenperspektive gedacht hat, die ich gar nicht mitgedacht habe. Und ja, deswegen finde ich das so klasse, dass wir die dadurch hier auch dabeihaben. Ich würde das einfach mal vorlesen.Das sind vier Hinweise für Kinder und Jugendliche mit ME: »Auch wenn es nervig ist, immer auf Pausen zu achten, bitte, bitte versucht, Eure Bildschirm-, Lego-, Lesezeit oder was Ihr sonst so macht, zu reglementieren und immer Pausen einzubauen. Es kann sonst so schlimm enden. Vergesst nie den Kontakt zu Euren Freunden. Vermeidet es, zwei Sachen gleichzeitig zu tun, also beispielsweise Podcasts hören und parallel noch etwas zu spielen. Und zuletzt: Denkt immer voraus, worauf Euer Körper als nächstes reagieren könnte. Vor allen Dingen Geräusche und Licht. Und versucht es vorher zu vermeiden.«
KR: Ja, was für weise Worte, die ja auch für alle gelten. Also es ist gar nicht so ein großer Unterschied zu machen zwischen Betroffenen und Personen, die gesund sind, sondern − die Dinge in Ruhe zu machen − also etwas, was letztlich auch lebensbegleitend sein sollte, oder?
LH: Ja, das stimmt zum einen. Oder auch, was wir natürlich jetzt immer mal wieder haben anklingen lassen, auf Bedürfnisse zu hören, sie nicht infrage zu stellen, sie zu akzeptieren, selbst wenn man sie im ersten Moment überhaupt nicht begreift.
Aber ich füge hier wirklich ein Aber an und das ist eben nochmal diese spezifische PEM, also die post-exertionelle Malaise. Das steht ja dahinter. Das, was er hier nennt, ist ja auf der Basis geschrieben, die Erfahrung gemacht zu haben: »Denn, wenn ich das nicht beachte, dann passiert etwas und das ist nicht gut. Und ich weiß nicht, wann dieser Zustand sich wieder bessert und es besteht die Gefahr, dass er sich nicht wieder verbessert.«
Und das ist ja schon das, was ihn und die anderen Betroffenen unterscheidet von − wenn Du und ich zum Beispiel − uns mehreren Medien gleichzeitig aussetzen oder allein einkaufen gehen, im Atrium ist ein Sammelsurium an Einflüssen, oder ins Kino gehen und so weiter. Und dass uns, außer vielleicht, dass wir sagen: »Oh, das war heute aber viel!«, − aber uns wird nichts passieren. Und das ist natürlich ein fundamentaler Unterschied.
KR: Absolut. Also wir können uns auch bei Überanstrengung jederzeit regenerieren. Und das ist in dem Fall Deines Sohnes nicht so. Das müssen wir auch absolut herausstellen.
Ich fände es noch interessant, auch noch mal darauf hinzuweisen, dass Du jetzt auch im Kontext der Universität davon gesprochen hast, dass da Personen sehr wohlwollend auch für diese Situation da sind und das auch gut verstehen und nachvollziehen können. Es muss aber auch nicht so sein, nicht jeder Arbeitgeber oder jedes Promotionsgremium ist da wohlwollend unterwegs. Und anders als bei Studienordnung, wo zum Beispiel das Wort »Nachteilsausgleich« explizit auch ein Paragraph ist, ist es bei Promotionsordnungen oftmals noch nicht der Fall.
Schauen wir noch mal von der Universität nach außen. Also welche Unterstützung, Entlastungen hast Du außerhalb der Universität erfahren? Auch das hast Du schon kurz angesprochen, also Bielefeld ist auf alle Fälle eine wichtige Institution für Dich. Was macht Bielefeld so besonders?
LH: Ja, die Ambulanz in Bielefeld Bethel mit dem sehr engagierten Kinderarzt Jeremy Schmidt macht so besonders, dass sie erstmal eine der wenigen Ambulanzen in Deutschland ist, an die man sich überhaupt wenden kann. Das müssen natürlich mehr werden. Jedes Bundesland muss dort eine Anlaufstelle für betroffene Familien haben. Bethel macht auch noch besonders, dass dort über die eigentlich vorhandenen Ressourcen hinweg Kontakt zu den Eltern gehalten wird nach Diagnostik. Das können die meisten der ohnehin wenigen Ambulanzen nicht leisten. Und ich bin froh, dass es gemacht wird, dass ich nach wie vor telemedizinisch beraten werde. Und wenn man sich das wegdenkt, dann wäre ich auf diesem Gebiet auch so fast komplett allein, nach wie vor.
Und ansonsten, ich habe zum Glück eine dann noch sehr engagierte Kinderärztin gefunden, die sich wiederum mit Bethel austauscht. Das ist eben auch ganz viel wert und dass man dann irgendwann doch mal das Gefühl bekommt, man kann ein bisschen auch abgeben. Und ja, dass wir also eine Kinderärztin haben, die dort auch selbstständig mitdenkt, die bereit ist, sich auch fortzubilden. Auch ein ganz wesentlicher Punkt.
Und ja, ich hatte die Pflegestufe schon erwähnt, ich habe für mein Kind einen Grad der Behinderung feststellen lassen, der auch mit einhundert Prozent genehmigt wurde. Die damit verbundenen Erleichterungen im Alltag, die können wir aktuell überhaupt nicht umsetzen oder anwenden. Das würde nämlich ja voraussetzen, dass man in der Lage ist, das Haus zu verlassen, um beispielsweise, ja, überhaupt irgendwelche öffentlichen Sachen benutzen zu können. Das geht aktuell überhaupt nicht. Aber hier bin ich sehr froh gewesen, dass hier, obwohl ME auch, ich glaube, auch nicht wirklich auf dem Amt bekannt war, aber dass man sich die Zeit genommen hat, meinen Antrag in Ruhe zu lesen und die Sache adäquat einzuschätzen. Aber auch das klappt bei vielen anderen betroffenen Familien nicht, da kenne ich unzählige Geschichten. Und auch hier ist es eben wieder so, dass man noch ganz sehr davon abhängig ist, welche Person begutachtet, inwiefern ist die Person bereit, sich Zeit zu nehmen, in die Sache einzuarbeiten, selber noch mal zu recherchieren. Und ja, das muss auch, Du weißt schon, institutionalisiert werden, damit man da eben nicht mehr abhängig ist.
Und das kann ich vielleicht auch noch ganz kurz erwähnen, auf den Vorgang der zum Glück angemessenen, beurteilten Pflegestufe. Auch hier hatte ich mich der großen Herausforderung gegenübergesehen, wie ich diese Pflegestufe beantragen kann, wenn in dem gesamten Fragebogen erstens überhaupt nicht mitgedacht wird, dass sich die Fragen auf ein Kind beziehen können, und zweitens ME überhaupt nicht in der Pflege bekannt ist. Auch hier musste ich zwischen den Zeilen versuchen zu argumentieren. In dem Fragebogen läuft ja ganz viel einfach über ankreuzen. Also beispielsweise kann die Person selbstständig essen und dann kann man so abstufen, mit welchen Hilfsstellungen sie dann selbstständig vielleicht oder selbstständiger essen kann. Und als ganz kleines Beispiel für ME kann man hier nicht ja, nein ankreuzen. Das ist erstens tagesformabhängig und das hängt ganz viel damit zusammen, was macht die Person an dem Tag sonst noch? Was macht sie nach dem Essen, vor dem Essen? Wie viel muss ich da unterstützen und was macht das Essen mit der Person? Eventuell muss sie sich danach eben lange Zeit erst einmal ausruhen, weil das eine Anstrengung war. Und das muss miterfasst werden, weil das ist ME, das muss ich mitdenken, nach Aktivität die Pausen einzubauen und vorausschauend zu planen, was kommt als nächstes und wie kann ich das wieder reduzieren, um da nicht eine Überlastung dann herbeizuführen. Und das findet ja den ganzen Tag statt, bei egal was, beim Waschen. Wir hatten das Zähneputzen, das hatten wir schon als ein Beispiel. Es fängt aber auch schon bei der Frage des Anziehens an von Kleidung. Es gibt nichts, wo man sich das nicht fragt. Und genau sowas wird in diesem Fragebogen nicht abgebildet. Und da kam mir natürlich schon zugute, ich bin es gewohnt zu argumentieren, und wir hatten eine sachverständige Gutachterin, die sich da eben auch die Zeit genommen hat. Aber auch hier, das ist, das ist Glück.
KR: Das ist Glück und das steckt in den Kinderschuhen, wenn man es vielleicht so sagen kann. Ich würde gern zu dem kleinen zweiten Lichtblick kommen, den ich angedeutet hatte.
Und zwar hat das Bundesministerium für Gesundheit im Oktober den vierten runden Tisch organisiert, an dem unter anderem verschiedene Betroffeneninitiativen wie zum Beispiel NichtGenesenKids e.V. und verschiedene medizinische Berufsverbände, die sich insbesondere auch mit Kinder- und Jugendmedizin auseinandersetzen, und auch die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS, − also all die saßen zusammen und haben gemeinsam besprochen, wie die Versorgung dringend verbessert werden muss. Mittlerweile gibt es zwei Fördermaßnahmen, auch die kann man auf der Webseite des Gesundheitsministeriums einsehen, eine wurde im März und eine im Juli dieses Jahres veröffentlicht. Und alles zielt auch darauf, bestimmte Langzeitfolgen von Covid 19, wo ja auch in einem gewissen Anteil ME/CFS-Patient*innen mit dabei sind − es umfasst mehr, das wissen wir − aber trotzdem werden hier auch noch mal spezifische Dinge der Versorgung und der Erforschung vor allen Dingen auch für Jugendliche und Kinder bereitgestellt. Karl Lauterbach, noch Bundesgesundheitsminister, um es mal so zu sagen, hat damit auch einen Wendepunkt in der Long-Covid-Versorgung angekündigt. Er spricht davon, wortwörtlich: »Wir lassen die Betroffenen nicht allein.«
Wie schätzt Du das ein, Lilli?
LH: Ja, also zunächst einmal ist das natürlich ein schönes Signal und ich sehe definitiv, dass dahinter viel Arbeit und Bemühungen stecken. Aber ich kann auch gleichzeitig sagen, das kommt bisher überhaupt nicht an. Das kommt weder bei den betroffenen Familien an noch bei den Ärzt*innen, die aktuell dazu forschen, weiter forschen wollen, die in den Startlöchern stehen mit Projekten. Prof. Dr. Carmen Scheibenbogen, kann man mal googeln, da findet man Interviews, wo sie genau dieses Desaster beschreibt. Ich kriege das auch mit durch die schon erwähnte Arbeit in Bielefeld Bethel, die derzeit auf Spendengelder angewiesen sind, obwohl sie an ein Universitätsklinikum angegliedert sind.
Und hier: Es kann nicht gewartet werden, um es mal so zu sagen, bis diese Mittel, von denen dort gesprochen wird, die Du erwähnt hast, irgendwann freigemacht werden, sondern das muss jetzt ankommen. Jetzt müssen Projekte fortgesetzt werden, die schon begonnen wurden. Das muss jetzt fließen. Es müssen jetzt bürokratische Hürden abgebaut werden. Das erzählen die Forschenden immer wieder. Es sind auch die bürokratischen Hürden, die das Ganze hier aufhalten. Und ja, beispielsweise, man hat das ja gesehen, dass es auch funktioniert wie während der Corona-Pandemie, dass es möglich ist, bürokratische Hürden fallen zu lassen, wenn ein akuter Bedarf da ist. Und der ist hier da, dass es möglich ist, schnell zu handeln und nicht nur meine, ich weiß es ja aus der Community, die Angst ist da, dass sich das jetzt nochmal lange zieht, ja, bis wirklich in der Forschung das entsprechende Geld ankommt und die entsprechenden Medikamente auch endlich zugelassen werden.
Und was ich in dem Zusammenhang auch noch sagen möchte, ist, dass es, Du hast den Satz vorgelesen und es auch schon mitbenannt, genau, ME selber als Erkrankung kommt darin erstmal nicht vor. Und hier müssen wir auch aufpassen, dass ME nicht unter einer anderen Erkrankung wie Long Covid irgendwie verwurstelt wird, sondern das braucht spezifisches Wissen und deswegen auch eine spezifische Forschung und Versorgung, und das ist ganz wichtig, und da habe ich auch Sorge, dass das auch hier wieder untergeht und auch diejenigen benachteiligt werden, die ME eben nicht durch Corona bekommen haben, sondern durch den Epstein-Barr-Virus, durch Influenza oder andere auslösende Faktoren.
KR: Bislang gibt es kein Medikament gegen ME.
LH: Also es gibt das nach einem Plan der Charité, aber auch international sozusagen bekannt ist, was bei ME eine hilfreiche Medikation sein kann, die beispielsweise eben die Neuroinflammation bekämpfen. Das sind dann im Moment alles sogenannte »Off-Label-Präparate«, das bedeutet, sie sind für eine andere Erkrankung zugelassen und auch, im Falle jetzt von meinem Sohn und von all den anderen Minderjährigen, für eine andere Altersgruppe. Und »Off-Label: Für mich als Angehörige bedeutet das eben, das hatten wir schon, dass man das aus der eigenen Tasche bezahlt.
Und ja, aber es sind definitiv auch noch, und das ist eben auch der Punkt, was ich meine, weshalb das jetzt schnell gehen muss, ist, es besteht ja ganz viel Wissen. Es besteht schon so viel Wissen, was den Betroffenen helfen könnte. Und es sind auch jetzt schon weitere Medikamente auf dem Markt, die sind vorhanden, wo man davon ausgeht, dass sie helfen können. Das sind Medikamente, die insbesondere auch den Aspekt der Autoantikörper dort also gezielt eingesetzt werden können. Das ist auch ein Punkt, der bei den meisten Betroffenen auffällig ist, bei meinem Sohn auch. Und auch diese Präparate sind eigentlich schon da, aber es braucht jetzt die Studien, um sie dann eben, ja, zuzulassen.
KR: Auch dein Sohn nimmt ja an so einer Studie teil.
LH: Er nimmt über Bielefeld Bethel an einer Studie teil. Und auch hier merke ich, dass zu der Frage, ob das schon bei uns ankommt: Es scheitert im Moment allein daran, dass es nicht genug Kapazität gibt, diese Daten, die da erhoben werden, überhaupt fachgerecht einzuordnen. Es fehlt an banalen Dingen wie studentischen Mitarbeitenden, die Registereinträge vornehmen könnten. Also auch hier wird wieder Wissen produziert, aber es wird nicht adäquat verarbeitet, sodass es an anderer Stelle weiterverwendet, genutzt werden kann.
Und das betrifft ja auch nicht nur die Kinder und Jugendliche und Erwachsene, denen dadurch im Moment nicht das zukommt, was ihnen zusteht und helfen würde, sondern es geht ja auch weiter. Es betrifft ja auch dann zukünftig Betroffene, die wieder nicht davon profitieren können. Und: dass hier Wissen verloren geht.
KR: Die Dringlichkeit, die Du jetzt auch benennst, noch mal zu manifestieren und sichtbar zu machen, gibt es seit 1995 am 12. Mai den ME/CFS-Tag. Auch in diesem Jahr organisierten viele Initiativen unter anderem Großkundgebungen und Liegend-Demos, zum Beispiel in Berlin, Hamburg, Köln und in anderen Städten. Daran haben meist Angehörige und Freunde von Betroffenen teilgenommen, weil Schwerstkranke nicht aus dem Haus gehen können. Dennoch waren auch Schwerstkranke dabei und trotz großer körperlicher Anstrengung haben sie das auf sich genommen, wohlwissend, dass es dann wieder verschiedene Crashs auslöst, weil sie eines verdeutlichen wollen, und zwar, dass es eine humanitäre Katastrophe ist, auf die sie aufmerksam machen. Und damit wollen sie auch die Öffentlichkeit sensibilisieren.
Lilli, wenn Du drei Wünsche frei hättest, welche wären das?
LH: Ja, also zum einen ganz banal, das können, glaube ich, alle umsetzen. Es würde allen Betroffenen und ihren Angehörigen ungemein helfen, wenn wieder mehr ins Bewusstsein rückt, dass es vulnerable Gruppen gibt. Es ist Winter, es sind viele Menschen mit Corona, mit Grippe und anderen Viren und Bakterien infiziert und gehen zur Arbeit, in die Schule, in den Supermarkt und meistens ohne Maske. Und das ist ein kleiner Wunsch, aber der kann große Auswirkungen haben, wenn einfach wieder mehr Bewusstsein dafür entsteht, dass viele Menschen gefährdet sind und an ME-Betroffene, wenn sie sich neu infizieren, kann das der absolute Rückfall sein. Und für mich als Angehörige bedeutet es auch, ich muss ständig aufpassen, mich nicht anzustecken, weil: Ich darf einfach nicht ausfallen. Wenn ich krank werde, gibt es niemanden, der einspringen kann und es ist eine Katastrophe. Und auch deswegen bin ich über jede Person froh, die zu Hause bleibt, wenn sie krank ist, die eine Maske trägt, wenn man trotzdem raus muss. Das wäre so ein erster Wunsch.
Darüber hinaus wünsche ich mir und allen, die es noch betrifft, das, was ich auch schon jetzt immer wieder angedeutet habe, dass sich gesamtgesellschaftlich etwas tut, dass Menschen mehr sensibilisiert werden überhaupt für die Existenz von ME und dass an alle Stellen, die es gibt, diese Botschaft kommt, dass diese Krankheit existiert, dass klar ist, was PEM ist, dass das ernst genommen wird und dass schon bei frühen Anzeichen die Alarmglocken losgehen. Und damit meine ich eben in den Familien selber, aber ich meine auch die Schulen oder eben die Jobs, wo sich die Menschen jeweils befinden. Ich meine sämtliche therapeutische, medizinische Einrichtungen. Es gibt keinen medizinischen Bereich, wo das nicht wichtig wäre, das zu wissen. Es gibt aber auch keinen gesamtgesellschaftlichen Bereich, wo das nicht wichtig wäre, sich damit auszukennen und nicht nur selbst zu informieren über diese Krankheit, sondern eben auch aus der eigenen Position heraus zu fragen, was kann ich tun, wenn ich den Verdacht habe, dass eine Person an ME erkrankt ist? Also, dass Schulen sich das fragen, wie können wir damit umgehen?
Unsere Schule zum Beispiel ist sehr kooperativ, aber auch hier muss sich das natürlich erst selber alles ankurbeln und wieder erklären. Und das ist wahnsinnig anstrengend, weil es nur ein Bereich ist, in dem man sich erklärt, obwohl man nicht gerne darüber spricht, weil es natürlich auch immer wieder weh tut. Und ja, dass alle aus ihrer eigenen Disziplin heraus fragen, was kann ich beitragen und wie kann ich mich vernetzen, um dann Strukturen zu schaffen, die dann schon vorhanden sind und dadurch nicht nur der betroffenen Person zu helfen, sondern eben auch den Angehörigen ihre Kraft nicht in Erklärung auslassen zu müssen. Dann hat man einfach Kraft, für eben andere Dinge zum Beispiel vielleicht auch irgendwann mehr Zeit für das eigene Leben oder für die eigene Arbeit.
Ja, und mein letzter Wunsch ist dann tatsächlich eben auf der politischen Ebene, dass diese Botschaft im Bundesforschungsministerium ankommt, dass einfach wirklich politisch Druck gemacht wird und sich dort etwas bewegt und jetzt nicht wieder Jahrzehnte verstreichen, bis irgendwie ein bisschen was passiert. Genau, und das kann auch jeder*jede unterstützen, beispielsweise indem Initiativen unterstützt werden, die Du auch schon genannt hast: NichtGenesenKids e.V., die Deutsche Gesellschaft für ME/CFS kann man Mitglied werden, kann man allein finanziell unterstützen, Fatigatio e. V. oder Lost Voices Stiftung. Dort kann man sich überall auf den Websites erkundigen, auch direkt anschreiben, wie kann ich Euch unterstützen, über eine Mitgliedschaft hinaus. Die veranstalten ja regelmäßig Aktionen.
Demnächst wird es eine Aufklärungskampagne von der Deutschen Gesellschaft ME/CFS geben unter dem Hashtag Aufklärungswinter. All das kann man auf dem Schirm haben, um sich zu beteiligen. Die Liegend-Demos hast Du schon erwähnt, man kann selber Demos initiieren, organisieren.
Ich habe auch gedacht, unsere Universität bietet ein großes Kapital, um auch hier aus den Disziplinen heraus zu fragen, wo kann ich da vielleicht irgendwie was, ja, was umwandeln aus der Kunst heraus. Das ist ja auch eine Riesen-Ressource, aus der künstlerischen Sicht zu fragen: »Was passiert hier eigentlich? Menschen verschwinden von einem Tag auf den nächsten. Wie kann es sein und was können wir tun, dass so was nicht passiert?« − Also ich glaube, es ist überall möglich, dazu auch wirklich beizutragen. Und ich würde mich freuen, es hilft auch mir selber immer, wenn irgendjemand, und sei es einen weiteren kleinen Tropfen auf den heißen Stein zu geben. Es ist ein Stück weit auch heilsam.
KR: Ja, ich denke, wir tragen ja auch mit unserer Podcast-Folge zur Sichtbarkeit von ME/CFS bei. Also auch der Podcast und diese Folge insbesondere kann natürlich in alle Welt geteilt werden. Da würden wir uns sehr drüber freuen.
Ich habe noch eine letzte Frage, Lilli. Was wirst Du im Anschluss an unser Gespräch machen?
LH: Ich werde ganz schnell nach Hause fahren, weil Leander ist ja jetzt derweile die ganze Zeit alleine. Das sollte natürlich immer so kurz wie möglich gehalten werden. Das heißt, ich beeile mich, wie gewöhnlich, nach Hause zu kommen, werde einfach schauen, ja, nach essen, trinken, ob er seine Tabletten genommen hat, ob ich gerade sonst was tun kann, dann kurz durchatmen.
Und ich glaube, ich werde auch an die Community diese Botschaft auch teilen, dass ein Podcast entsteht, weil auch hier ist es natürlich so, also in der Selbsthilfegruppe, dass solche Nachrichten auch gut tun, dass es eine Form von Initiative gibt, die mehr Öffentlichkeit schaffen möchte. Und das sind Botschaften, die dann auch am Tag helfen. Und ja, das möchte ich irgendwie gerne da auf jeden Fall auch reingeben. Vielleicht freut sich jemand und es baut jemanden auf da draußen, die heute auch wieder einen schwierigen Tag mit ihren Kindern leider haben.
KR: Ja, das wäre ein sehr, sehr großer Wunsch, dass sich das dann auch erfüllt. Liebe Lilli, ich danke Dir ganz herzlich für das Gespräch und vor allem für Deine Zeit. Und ich wünsche Dir viel Kraft.
LH: Danke, Katrin.
KR: Das war die Bonusfolge »Promovieren und Arbeiten mit einem chronisch kranken Kind«.
Ich danke Lilli Hallmann, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Promovierende unserer Universität und alleinerziehende Mutter eines an ME/CFS erkrankten Kindes, für ihre offenen Worte.
Mein Name ist Katrin Richter und herzlichen Dank für Euer Interesse.
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